Ein anregender Ast
Das Knirschen des eiskalten Schnees war deutlich zu hören, als Ida mit ihren brandneuen Stiefeln den schmalen Pfad zur Kirche beschritt. Das neue Schuhwerk war von bester Qualität und viel zu schade, um sich unter vielen langen Schichten der Bekleidung zu verstecken. Die Heilige Schrift fest in der bekleideten Hand. Apfel und Brot sorgfältig in einen dunkelbraunen Holzkorb verstaut.
Kurzer Schmerz erfüllte Idas Körper, denn eine ihrer dunkelbraunen langen Haarsträhnen verfing sich in dem dicht verschneitem Gebüsch. Behutsam versuchte sie ihre glänzende Strähne zu befreien. Obwohl sie sich erfolgreich von dem Ast befreien konnte, kullerten ihr die dicken Tränentropfen die Wange hinunter. Der Verlust ihres geliebten Bruders war für Ida besonders schwer zu verkraften. Als der Rest der Familie allmählich in den Alltag zurückfand, hatte Ida immer noch Schwierigkeiten. Nun ist Gregor schon seit zwei Jahren nichtmehr unter ihnen.
Der schwarze Handschuh trocknete sanft die Tränen der angehenden Herrscherin. Die Quasten des Mantels wippten lautlos im Einklang mit dem energischen Schritt, den Ida an den Tag legte.
„Wenn ich regiere, dann wird es dir an nichts fehlen!“, krähte Gregor, als die beiden Geschwister an der Erhebung, welche sich gleich neben dem von ihnen bevölkerten Schloss befand, herumalberten. Eifersucht verspürte Ida nie, denn für sie war das royale Dasein furchtbar furchteinflößend. Wenn man sie gefragt hätte welche Emotionen sie verspürt, hätte sie vermutlich mit Stolz oder Dankbarkeit geantwortet. Gregor und sie standen sich unfassbar nahe und waren unzertrennlich bis auf den letzten Atemzug. Ida war nicht für das Regieren und das Kommandieren ausgelegt, und das wusste sie und das ganze Reich schon seitdem sie ein kleines Mädchen war. Die Geburt Gregors symbolisierte Hoffnung und eine erfolgreiche Zukunft, denn alle wussten, dass Ida das Reich weder regieren noch kommandieren konnte. Auch bei Gregor zeigte sich Charakterstärke, seitdem er ein kleines Kind war, jedoch war er das perfekte Pendant zu seiner älteren Schwester. Die Beiden ergänzten sich wie kein anderes Geschwisterpärchen.
Der Geruch von Weihrauch und Weihwasser stieg Ida penetrant in die Nase, doch sie empfing ihn mit offenen Armen, denn die Thronfolgerin erhielt ein Gefühl von Geborgenheit durch dieses spezifische Aroma. Die täglichen Kirchengänge trainierten ihr eine hervorragende Residenz gegen den Geruch aber auch vor allem vor der Kälte, die man in den kältesten Jahreszeiten verspürte. Oftmals las Ida ihrem Bruder Verse aus der Heiligen Schrift vor. Die erwähnte Kirche glich wohl eher einer Kapelle, trotzdem wurde sie von allen Bewohnern der Stadt und auch von den Bewohnern des Schlosses als Kirche bezeichnet.
Nun saß sie auf einer kalten steinernen Bank und bekam kein Wort mehr aus dem Mund, nicht mal vorlesen konnte die scheinbar unfähige Thronfolgerin mehr. Sie löste sich schlicht in Tränen auf.
Ihrer Trauer schien kein Ende.
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