Ein bisschen Glück
Ich sehe nichts. Es gibt nichts was ich sehen könnte. Und erst recht nichts was ich sehen möchte.
Ich greife nach der Hand meiner kleinen Schwester Eva und drücke sie. Ihre kleinen schmalen Finger klammern sich an mir fest, ich bin das Einzige, was ihr noch geblieben ist. Es vergeht eine Stunde, dann zwei und schließlich höre ich auf mitzuzählen.
Über uns ertönt der Fliegeralarm, wie eine bedrohliche Todesbotschaft verhallt er in den leergefegten Straßen. Doch ich blende alles aus. Die Angst vor dem Tod, die Dunkelheit im U-Bahn-Tunnel, den Gestank des Abwasserkanals, der sich direkt neben uns befindet und die Panik der Menschen. In meinem Kopf spielt ein Plattenspieler Lilian Harvey und ihre Sehnsucht nach Glück erfüllt mich. Ich stelle mir vor, dass auch auf mich irgendwo auf der Welt ein bisschen Glück wartet und sei es nur, dass wir hier diese Nacht überleben.
Irgendwo auf der Welt fängt mein Himmel an, ich bin fest von Lilians Worten überzeugt.
Ich kauere auf dem kalten Boden, schaue mich um und sehe in die Gesichter der Menschen. Jeder von ihnen könnte ein wenig Glück gebrauchen. Jeder verdient es, gesund nach Hause zurückzukehren und eine vollständige Familie vorzufinden. Alles hat ein Ende, sogar dieser Krieg, würde mein Vater jetzt sagen.
Allerdings…whummmm ! Ein heftiges Beben erschüttert die Erde. Irgendjemand schreit , , Lauft!“ Aber eigentlich haben alle nur den einen Gedanken: , , Es ist zu spät“. Meine größte Angst wird wahr. Ich kann nur vermuten, was es war, doch ich denke, es ist eine Bombe, die ganz in der Nähe eingeschlagen ist. Wasser fließt erbarmungslos in den Tunnel. Die U-Bahn Station, welche uns retten sollte, wird zu unserem Grab. Ich packe Lilly, zerre sie vorwärts und achte nicht auf ihr Weinen. Meine Füße tragen mich zum Ausgang des Tunnels, genau wie die Füße tausender anderer Menschen auch. Doch der Ausgang ist schmal und so weit entfernt! Die Menschen schreien und treten, einige liegen niedergetrampelt auf dem Boden. Ich kann nichts tun, als mich mit der Masse zu bewegen und zu hoffen. Hoffen, dem Tod zu entrinnen, hoffen auf Freiheit, hoffen auf Glück.
Eva schreit nach Mutter, obwohl sie weiß, dass Mutter schon vor langer Zeit gestorben ist, genau wie Vater. Es gibt jetzt nur uns beide. Aber dann - ich kann es zuerst nicht glauben, ein Regentropfen fällt auf mein Gesicht und ich weiß, dass wir es geschafft haben. Wenige Minuten später stürzt der Eingang des U-Bahnschachtes in sich zusammen und eine riesige Flutwelle erstickt die Schreie der Unglücklichen, die es nicht heraus geschafft haben - unter den Trümmern Kinder und Frauen, Freunde und Familien. Mir, Eva und ein paar weiteren wurde Glück geschenkt, doch so vielen anderen wurde es verwehrt. Hals über Kopf laufe ich. Wohin weiß ich nicht, um mich herum nur Trümmer und Verletzte. Ich laufe ziellos, mein Kopf ist leer. Mit Eva an der Hand und der flüsternden Melodie von Lilian Harvey im Ohr, entfliehe ich in Richtung Freiheit.
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