Ein-Blick in die Zukunft
Ich bin nervös. So wie immer, wenn wir dieses Gespräch haben, so wie immer, wenn ich an diesem Tisch sitze. Außer uns ist keine andere Person hier, es sind nur wir. Sie sitzt gegenüber von mir und wartet geduldig, während ich absichtlich ihren Blick meide.
„Weißt du, was du nach der Schule machen wirst?“, fragt sie und bricht die Stille.
„Nein. Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich zu einer Universität gehen. Das machen alle. Da studiere ich etwas und gehe dann arbeiten. Ein paar Klassenkameraden gehen auch studieren, vielleicht sollte ich mit denen auf die gleiche Universität gehen“, stottere ich vorsichtig.
„Weißt du, was du studieren wirst?“
„Nein. Ich weiß es nicht. Es gibt so vieles, was ich studieren könnte, aber nichts passt zu mir. Recht? Kunst? Chemie? Ich weiß es nicht. Ich habe kaum Talente und es gibt nichts, was mich interessiert. Alle aus meiner Klasse wissen, was sie tun wollen. Sie prahlen mit ihren perfekten Zukunftsplänen, während ich mir über meine Zukunft den Kopf zerbreche. Das ist unfair.“
„Weißt du, wann du einen Freund haben wirst?“
„Nein. Ich weiß es nicht. Es wäre schön, wenn ich plötzlich den Richtigen treffen würde. Aber ich weiß, dass das nicht so einfach ist, denn so etwas passiert nur in Büchern. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass mein Leben kein Buch ist, weil alles nur schiefläuft. Meine Eltern fragen seit Jahren, wann ich endlich einen Freund finden werde und diese Frage kann ich immer nur mit einem Schulterzucken beantworten. Und danach tadeln sie mich und beschweren sich.“
Einige Sekunden vergehen. Verwundert neige ich meinen Kopf und sehe sie an. Warum ist sie still? Normalerweise gehen unsere Gespräche stundenlang weiter, stundenlang stellt sie Fragen über meine Zukunft, auf die ich keine Antworten habe. Sie erwidert meinen Blick, in ihren Augen liegt Enttäuschung. Die Unsicherheit, die ich am Anfang unseres Gesprächs gespürt habe, kehrt mit einem Schlag zurück. Unsere Gespräche sind immer gleich. Zuerst bin ich nervös, werde danach aber entspannt. Was ist los? Warum redet sie nicht?
„Weißt du, wann du hiermit aufhören wirst?“, fragt sie.
„Weißt du, wann du dich endlich um deine Zukunft kümmern wirst?“, fragt sie wieder, ihre Stimme klingt eiskalt.
Warum machst du das? Warum? Nein, ich kenne die Antwort. Schon seit Jahren sitze ich täglich mit ihr in diesem Raum und beantworte ihre Fragen, jeden Tag dasselbe. Sie hat recht. Ich muss aufhören. Ich muss der Realität entgegenblicken, anstatt mich vor ihr zu fürchten. Aber so einfach ist das nicht, verdammt. Warum kann ich nicht einfach wissen, was ich will? Warum kann ich nicht wie alle anderen das Privileg haben, einen Zukunftsplan zu haben? Wuterfüllt stehe ich auf, beuge mich über den Tisch und starre sie kurz an, bevor ich mit voller Wucht aushole und auf sie einschlage.
Ich kauere am Boden, Glassplitter in meiner Hand. Der Rahmen des ehemals so makellosen Spiegels lehnt am Sessel, während ich verzweifelt meine Reflektion in den Scherben betrachte.
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