Ein Brief aus einer anderen Welt
Lieber Vater,
dieser Ort, von dem du immer so besessen warst, von dem du Tag und Nacht gesprochen hast . . . , Vater, Chronalis existiert! In den letzten Tagen ist mir vieles klargeworden. Nichts ist, wie wir es uns vorgestellt haben. Wir sind die Privilegierten, nicht sie. An diesem Ort hat Zeit, oder besser gesagt die Geschwindigkeit, in der man altert, eine völlig andere Bedeutung. Nichts ist hier wertvoller als Zeit, denn ein menschliches Leben dauert in Chronalis ein Jahr irdischer Zeit.
Diese Leute haben es geschafft, einen nahezu perfekten Ort ohne jegliche Zeitverschwendung zu erschaffen. Dinge, von denen wir bei uns nur träumen können, stehen hier längst auf der Tagesordnung. Durch ein System, das alle Gehirne miteinander verbindet, wird die Kommunikation beschleunigt. Sobald man sich hier etwas denkt, ist es schon bei allen anderen angekommen. Man muss ein Wort nicht einmal aussprechen und schon weiß es jeder, für den es von Bedeutung sein könnte. Nicht relevante Informationen werden nicht“verschickt”, damit sich die Leute nicht über unnötige Sachen Gedanken machen. Das System basiert auf einer Datenbank, in der sich alle gedachten Informationen und das ganze Wissen befinden. Jeder Mensch hat über sein Gehirn freien Zugriff auf diese Datenbank, die ihn mit relevanten Informationen aus aller Welt versorgt. Ich persönlich habe Angst vor diesem System. So etwas wie Privatsphäre existiert in dieser Welt einfach nicht. Lügen kann man hier also nicht. Freizeit scheint für die Menschen dieser Welt ebenfalls kein Begriff zu sein. Sie ist bedeutungslos. Alle arbeiten wie Bienen oder Ameisen zusammen, ohne dabei auch nur einen Gedanken an das eigene Wohl zu verschwenden. Schneller, besser, noch schneller, noch besser. . . Alle denken nur an die Entwicklung, jede noch so kleine Tätigkeit soll sofort erledigt sein, ohne dass dabei Zeit vergeht. Teleportation, sofortige Kommunikation, langhaltige Nährstoffe, die einmalig über Spritzen zugeführt werden. Alles soll sofort geschehen. Wo führt das hin? Die Menschen sind wie fern gesteuerte Maschinen, aber . . . es scheint ihnen nichts auszumachen, als ob die Gefühle eines Individuums in dieser Welt einfach gar keine Rolle spielen. Ich frage mich, ob die Einheimischen überhaupt so etwas wie Gefühle empfinden können? Sind sie überhaupt noch Menschen? Oder sind das schon Maschinen? Ist es wirklich nur so möglich, hier zu leben? Das, was mich am meisten beunruhigt ist, dass unsere Welt droht, genauso zu enden. Möchten wir Roboter werden? Im Gegensatz zu den Menschen in Chronalis müssen wir nicht so leben. Wir müssen nicht schneller, besser, noch schneller und noch besser werden.
Vater, bitte erzähle der Welt von diesem Ort und verbreitete diese Nachricht, falls ich es nicht mehr zurückschaffen sollte. Ich hoffe, dass ich dich wiedersehen werde. Schließlich bleiben mir noch 355 Tage, um einen Weg zu finden, zurückzukehren. Das ist doch fast ein ganzes Leben!
Ich liebe dich
dein Duncan
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