Ein ewig währender Augenblick
Unter dem Himmel, welcher sich im Angesicht der untergehenden Sonne purpurrot färbte, ließen sich schon die ersten Sterne erblicken. Es war zwar erst recht früh, aber der Winter rückte immer näher und mit ihm kam die Dunkelheit. Der Wind, welchen man noch vor ein paar Wochen um diese Uhrzeit mild und zahm hätte bezeichnen können, ging über in eine recht unangenehm raue Kälte. Dies war hier schon immer mein Lieblingsberg. Da oben hörte man nur die Vögel zwitschern und die Grillen zirpen. Außerdem wuchs dort ein kleiner Kirschblütenbaum, den ich zu meinem 12. Geburtstag zusammen mit meinem Opa gesetzt hatte.
Er starb wenige Stunden später an einem Herzinfarkt.
Dieser Anblick den man von da oben auf das kühle, mit Nadelbäumen bedeckte Tal, auf das belebte Dorf oder auch auf die Taverne hatte, hatte immer so etwas Euphorisierendes an sich.
Die paar dutzend Strohdachhäuser erstreckten sich in einem Halbmond entlang des aus Birkenholz geschnitzten Walls. Der Markt und die Taverne nahmen die andere Hälfte des Dorfes an. Und die goldene Mitte bildete die kleine unfertige gotische Kathedrale, die von einem eingefriedeten Gelände aus dekorativem Marmor umgeben wurde. Um die Bischofskirche herum wimmelte es immer nur so von Maurern, weswegen alles von weiter weg betrachtet nur noch wie ein chaotisches Getümmel erschien.
In dieser Saison sah man auch immer wieder die Handwerker das große Eichenholzkreuz, welches seit Generationen auf einem steinernen Podest vor dem Kirchenportal stand, ausbessern und wetterfest anstreichen, damit es den Winter unbeschadet durchstünde.
Diese kurzen, scheinbar unbedeutenden Augenblicke sind der Grund, wegen dem es sich lohnt zu leben, dachte ich.
Diese Ruhe. Dieser Frieden. Diese Behaglichkeit.
Augenblicke könnten zeitlos oder auch gegenwärtig sein, sich so lange wie eine Sekunde oder auch wie Äonen anfühlen. Sie sind und bleiben jedoch nur schnell vergehende Momente. Denkt man zurück an einen Augenblick, ist schon der nächste vergangen.
Ein Bild beschreibt so viel wie tausend Worte - ein Moment beschreibt so viel wie tausend Bilder. Sie holen einen ins Hier und Jetzt und sorgen gleichzeitig dafür, dass man in schlechten Zeiten etwas zum zurück Erinnern hat.
Man sagt, dass man in den letzten Augenblicken, wenn einem das Leben durch die Finger zu rinnen scheint, alles viel intensiver sieht.
Die Gerüche fühlen sich greifbar und die Farben der Landschaft schmackbar an. Es ist, als wolle einem die Natur selbst ein Bild von sich in den Kopf setzen.
Ob es meinem Opa wohl auch so erging?
Und wenn die Welt anfängt zu verblassen und sich alles nur noch wie ein leiser Film anfühlt, weiß man, dass hiermit der rote Faden des Lebens zu Ende ist: Man sollte sich noch von der Welt, in der man bis zu diesem Zeitpunkt lebte, verabschieden und seinen letzten Atemzug nehmen.
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