Ein Glas Kirschsaft
Ich wusste nie, ob mein Vater Kirschsaft mochte.
Ein irrelevantes Detail für die meisten, wenn man in Betracht zieht, wie viele andere Dinge ich nicht über ihn wusste. Doch von all den Fragen, die noch offen sind, wäre dies wahrscheinlich die einzige, die ich nochmal stellen würde.
An meinen ersten Versuch kann ich mich noch erinnern.
Die Regel“Geh nicht in mein Büro” war einer der vielen in unseren Haus, aber definitiv nicht die einzige, die ich ignoriert habe. Eine Frage lag mir auf der Zunge, während ich die Türen seines Büros mit einem Knarren öffnete, als wären sie noch nie so weit aufgesprungen worden. Ich erkannte meinen Fehler sofort, als die Sohle meiner Schuhe den Kaschmir seines teuren Teppichs beschmutzte.
Die Atmosphäre war anders als im Rest des Hauses, eine Kälte kam mir entgegen, die mich zittern ließ. Aber ein Blick auf die fest geschlossenen Fenster geworfen, der rote Samtvorhang komplett unbewegt, und es wurde ziemlich klar, dass diese Kälte eindeutig von ihm kam. Der Tisch war um einiges größer als ich, das lasierte Palisander überragte mich förmlich und versperrte mir den Blick von der Arbeit, in die er wie immer noch vertieft war. Er hat mich noch nicht wirklich wahrgenommen und doch war es klar, wie unzufrieden es ihn gemacht hatte, dass ich es wagte, ihn zu stören. Doch damals, viel naiver und mutiger als ich es je war seither, fand ich trotz alledem den Mumm, meinen Mund zu öffnen.
“Papa, magst du eigentlich Kirschsaft? ” begann ich zu sprechen, meine Finger spielten mit dem Kragen an meinem Kleid, als ich meinen Blick auf das Muster des Teppichs warf, anscheinend trotzdem nie ganz stark genug, ihm in die Augen zu sehen.
“Geh, bitte” murrte er während er weiterhin seine Texte korrigierte und mir mit seiner freien Hand gestikulierte, den Raum zu verlassen. Für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke, so kurz, man hätte es kaum gemerkt, würde man nicht am anderen Ende von ihm stehen und den Schauder, der einen über den Rücken lief bei seinen emotionslosen Augen, selbst spüren. Ich verweilte noch ein bisschen, hab das Gefühl sickern lassen, bevor ich sein Büro verließ, mit einer Absicht nie wieder einen Fuß hinein zu setzen.
Mein Schuh beschmutze zum zweiten Mal seinen Teppich, die Luft war komischerweise genau so kalt, doch diesmal ohne offene Fenster und ohne ihn. Lieblos stellte ich meinen Vater in die Mitte des Tisches. Ein erstes und vermutlich ein letztes Mal sah ich mich um, von der Porzellan gefüllten Vitrine zu den protzigen Gemälden an der Wand fühlte sich alles fremd an, und ich grinste bei dem Gedanken, dass ich ihm noch nie so nah stand wie jetzt.
Der Raum eines Fremden, der Raum meines Vaters.
Einer voller Dinge, die nun niemanden mehr etwas bedeuten.
Da überlegte ich zu bleiben, doch mein Blick fiel letztendlich auf den Tisch, der mir nun kaum bis zur Hüfte ging.
Ein begonnenes Glas Kirschsaft.
Mit einem bittersüßen Lächeln schwenkte ich es in meiner Hand und verließ sein Büro damit.
Wir wirkten unpassend.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX