Ein Hauch von Paradies
Es regnet. So stark, dass die Tropfen meine Schritte übertönen. Daran habe ich nicht gedacht. Daran, dass es im Paradies auch regnen kann. Ich gehe schnell, ich gehe mit gesenktem Blick. Das kann ich gut. Zu Hause ist es lebenswichtig, nicht aufzufallen. Auch daran habe ich nicht gedacht. Daran, dass ich mich im Paradies verstecken muss. Aber ihre Blicke beweisen es mir jedes Mal aufs Neue. Sie starren mich an, und obwohl ich nicht zurückschaue, fühlt es sich an wie Nadelstiche.
Du bist nicht wie wir, sagen ihre Blicke. Du gehörst nicht hierher.
Doch! , will ich schreien. Doch! Das Paradies ist nicht nur für euch.
Ich biege in eine kleinere Seitenstraße ab. So viele Menschen in einer so großen Stadt, und doch bin ich einsamer als ich es zu Hause je war.
Bin ich wirklich so anders als sie? Ich hebe den Blick. Für eine Sekunde, dann senke ich ihn sofort wieder. Das kann nicht sein. Ich bin ein Mensch wie alle anderen. Wieso bemerken sie gerade mich? Wieso starren sie mich an?
Abweisend, feindselig, angstvoll, hasserfüllt.
Ich will ihnen sagen, dass ich wie sie bin. Doch sie würden mich nicht verstehen. Sie bemühen sich nicht einmal. Wozu also die Mühe, ihnen meine Lage begreiflich zu machen?
Zurückgehen?
Unmöglich. Ich war zu lange hier, sie werden mich nicht mehr als einen von ihnen akzeptieren.
Hierbleiben?
Unmöglich. Ich war zu lange dort, sie werden mich nie als einen von ihnen akzeptieren.
Es regnet immer stärker, und ich gehe immer schneller. Es scheint mir sinnlos, überhaupt irgendwohin zu gehen, aber ich gehe weiter. Bloß nicht stehenbleiben. Stehenbleiben heißt aufgeben und aufgeben kommt nicht in Frage. Noch nicht.
Ich kann nicht mehr. Die Erinnerungen sind immer noch da, schlimmer als je zuvor. Auch daran habe ich nicht gedacht. Daran, dass ich im Paradies noch an meine Vergangenheit denken muss. Wieso heißt es Vergangenheit? Es ist nicht vergangen, nichts davon. Die Vergangenheit ist Gegenwart. Sie holt mich ein, jeden einzelnen Tag. Ich habe sie nicht dort gelassen, als ich hierherkam, wie ich es gehofft hatte. Nein. Ich kann sie nicht zurücklassen, egal, wie schnell ich auch gehe. Sie muss mich nicht einmal verfolgen, um mich einzuholen. Sie ist ein Teil von mir. Und diesen Teil spüre nicht nur ich, diesen Teil spüren alle, denen ich begegne. Ich weiß nicht, wie sie ihn spüren, wenn ich mich in einer Menschenmenge unsichtbar mache, aber sie spüren ihn. Und sie lassen mich auch wissen, dass sie ihn wahrnehmen. Dagegen kann ich nichts tun. Ich muss darauf achten, dass sie mich nicht bemerken.
Ich schaue nach oben. Wozu? Wozu schaue ich nach oben? Es tropft mir ja doch nur der Regen ins Gesicht.
Vielleicht fällt dort auch gerade Regen. Doch selbst der Regen fühlt sich hier anders an als dort. Ganz anders. So wie ich.
Und ich beschleunige meine Schritte und blicke wieder nach unten. Aber ich gehe weiter.
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