Ein Herz auf der Flucht
Der Regen trommelte im stetigen Rhythmus auf das gläserne Dach der Bahnhofshalle. Menschen wuselten darunter umher. Unruhig huschten ihre Augen über sie hinweg, immer auf der Suche nach dem einen, seinem Gesicht.
In einem Anflug von Ungeduld fiel ihr Blick auf die Bahnhofsuhr. Eine Viertelstunde blieb ihm, um sie zu finden.
Ihre zitternden Finger krampften sich in die Innenseiten ihrer Jackentaschen.
Im nächsten Moment veränderte sich etwas. Sie hätte nicht benennen können, woran sie es bemerkte, doch es war überdeutlich, als hätte das Licht seine Farbe verändert. Wie von selbst hob sich ihr Kopf.
Da stand er und sah sie an.
Ihre Beine bewegten sich, ehe sie dies überhaupt verarbeiten konnte. Ihr wild klopfendes Herz trieb sie voran. Das Einzige, was sie wahrnahm, war die Glastür des Seitenausganges und das Gefühl seines Blickes auf ihr. Ewig erschien es ihr, bis sie sich atemlos dagegen warf und in den Regen hinausstürzte.
Die Schritte hinter sich, die ein Echo ihrer eigenen hätten sein können, wollte sie nicht hören.
In dem Augenblick schlossen sich Finger um ihr Handgelenk und zwangen sie dazu, abrupt anzuhalten. Er nutzte ihren Schwung, um sie zu sich herumzudrehen, und da war er. Viel zu nah, so dass sie seine Körperwärme auf der Haut spüren konnte und seinen Duft nach Kiefernadeln zwangsläufig einatmen musste. Das Schlimmste aber waren seine Augen, die sie flehentlich ansahen.
„Cass, bitte!“, brachte er nach Luft ringend hervor.
„Charlie.“
Als Antwort schlossen sich seine Finger noch enger um ihren Unterarm. Sie schauderte, denn im Vergleich zur Hitze seiner Haut erschien alles andere noch viel kälter.
„Liebst du mich?“
Als sie nicht sofort antwortete, wurde sein Blick eindringlicher, bittender.
„Cassidy, liebst du mich?“
Ja, wollte sie sagen. So sehr.
Ihr Mund jedoch formte andere Worte.
„Wir kennen uns seit zwei Wochen.“
Sie sahen sich an, einer vertieft darin, den Anderen zu lesen. Sie hätte nun schweigen können, hätte es müssen, sich umdrehen und gehen, um endgültig von ihm weg zu kommen, doch ihr Herz verbot es ihr.
„Wir kennen uns seit zwei Wochen und ich habe bereits das Gefühl, nicht mehr ohne dich leben zu können. Und wenn wir uns zerstreiten? Wir kennen uns doch kaum.“
Ein leises Schluchzen entkam ihr. Er machte einen Schritt auf sie zu, so dass kaum noch Platz zwischen ihnen blieb.
„Sprich es aus.“, murmelte er.
„Ich habe Angst.“ Ihr Blick senkte sich auf den Boden, da sie seinem nicht mehr standhalten konnte. Seine freie Hand legte sich auf ihre Wange, strich zärtlich mit dem Daumen darüber und drückte ihr Kinn wieder nach oben.
„Ich habe auch Angst, große sogar.“ Er lachte heiser und sein Atem strich über ihre Haut.
„Aber mehr Angst, als davor diese Gefühle zuzulassen, habe ich davor, dich zu verlieren. Was wir haben ist besonders.“
Ein leichtes, unbändiges Gefühl breitete sich in ihr aus.
„Bleibst du bei mir?“
Sie nickte, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Da zog er sie mit sich. Unter die Überdachung des nächsten Hauses und in seine Arme.
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