Ein Kleid aus Schnee
Zimt, Vanille, Kakao… aus allen Ecken der Stadt dringt einem der liebliche Duft der Weihnachtszeit in die Nase. Getragen vom kalten Wind gleitet die Atmosphäre der Weihnacht hoch über die Dächer der Stadt hinweg. Unten im Getümmel des hell erleuchteten Christkindlmarktes wärmen sich die Leute am Punsch und lassen die Herzen Geschichten erzählen, welche sie einst erlebt und langsam verblassen. Geschichten, die einem den Zauber zurückgeben, den man als Kind noch verspürte, wenn das Glöckchen des Christkinds endlich ertönte.
Einen Zauber, den Madeline nur noch aus weit entfernten Gedanken kannte. Hier in der Fremde fühlte sie sich alleine gelassen, verloren und vergessen. Ihre Mutter und die große Schwester waren zurückgeblieben. Das Geld hatte nicht ausgereicht, um sie alle in Sicherheit zu bringen. Innerlich nagte der Schmerz dieser Entscheidung sehr an ihr, der grausige Gedanke, ihre Lieben nicht mehr in die Arme schließen zu können, zerstörte ihre Seele jeden Tag aufs Neue.
Jung war sie, als sie hier ankam, noch keine sieben Jahre und kaum imstande dazu, ihren eigenen Namen, die letzte Verbundenheit mit der Familie und das einzige Überbleibsel aus der fernen Heimat, auf Papier zu bringen.
Kurz vor Beginn der Feiertage konnte sie endlich Unterschlupf bei einer Familie finden. Liebevoll wurde auf sie achtgegeben, als könnte man von außen durch die zerbrechliche Schale das Innere sehen. Während sich ihre Zimmerkollegin über die Anhäufung an Geschenken erfreute, machte sie keine Anstalten, sich an dem Gegebenen zu ergötzen. Ein freundlicher Dank war alles, das sie den besorgten Eltern schenken konnte.
Je näher der Heilige Abend heranrückte, umso mehr Festtagsstimmung wich aus Madelines Herz. Verloren blickte sie Tag für Tag aus dem Fenster. Die Gedanken waren weit zurückgereist in längst vergangene Tage, als sie noch glücklich war, mit ihrer Schwester spielen konnte und ihre Mutter lachen sah. Die lange Reise in den Frieden ließ ihre Seele schneller reifen, als es für einen Menschen gesund gewesen wäre.
Einige Tage vor dem Fest ließ sie sich doch dazu erwärmen, ihrer Gastfamilie beim Backen der Kekse zu helfen. Die Erinnerungen an die Vergangenheit entlockten ihr dabei sogar ein kleines Lächeln.
Ein Brief riss Madeline blitzartig ins Jetzt zurück. Er war ihr mit den Worten hingelegt worden, dass es eine alte Tradition sei, dem Christkind einen Brief mit Weihnachtswünschen ans Fensterbrett zu legen. Doch für ihren Wunsch benötigte sie keinen Brief. Sie wollte nur zurück nach Hause. Eine Umarmung der Schwester, ein Kuss der Mutter war alles, nach dem ihr kleines Herz verlangte.
So wurde sie vom Heimweh hinausgetrieben in die dunklen Nachtstunden, um dem vermeintlichen Glück entgegenzulaufen. Ihre Seele schien genug zu haben von der Fremde, ihr Gewissen genug vom schönen Getue.
Heilig Abend lag das Mädchen dann da. Mitten im Walde, umhüllt vom weißen Kleidchen des frischen Schnees lachte sie den Trauernden entgegen und hatte endlich ihren Frieden gefunden.
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