Ein Lebensfaden mit oder ohne Moiren
Sie sitzt und spinnt. Der Faden ist weich und doch ist ihre Haut schon ganz brüchig und trocken von der monotonen Bewegung. Seit ihrer Kindheit spinnt sie diesen Faden. Er zieht sich von der Turmspitzte bis hinunter in den Keller, und dann noch eine Ewigkeit weiter, durch jedes Dorf, jede Stadt, oder Gasse, die sie jemals besucht hat. Sieht man ganz genau hin, erkennt man, dass einzigartige Muster eingesponnen sind, in den Faden der sich so unendlich zieht. Als erzähle er eine Geschichte.
„Das ist das aller größte Glück
Das ich je gehalten
Das ist der aller größte Schmerz
Den ich hab verwalten
Das ist der aller Dümmste
Da gibt es eine Reih
Das ist der schönste seiner Art
Da fühlt ich mich so frei
Da ist der Ekel und die Pein
Dort die Furcht
Und selbst der Eitel
Hat hier sein Heim
Es ist ein Faden
So weit und lang
Nichts zeigt wo er einst begann
Er zeigt mein Leben
Klein und weit
Und zieht sich in die große
Ungewisse Unendlichkeit
Bis eines Tages dann
Der Tag kommt
An dem ich nicht mehr weiter kann
Dann ist alles einerlei
Und der Faden wird zu Brei
Obwohl so manch einer sich die Meinung biegt
Dass er sich selbst dann in die schlichte Nicht-Existenz zieht.“
Verleiht sie mit ihrem Singesange jeder noch so kleinen Abweichung ihre ganz persönliche Bedeutung. Die alte Frau wippt hin und her, während sie gespannt den Faden spinnt. Als könnte die nächste Faser das entscheidende letzte Teilchen sein, dass ihr Leben sowohl im wörtlichen als auch übertragenen Sinne perfektioniert. Plötzlich ein Stechen in der Brust und sie liegt unter ihrem Spinnrad. Ob sie den Faden mit sich nach unten gezerrt und abgerissen hat, weiß sie nicht. Sie weiß nicht, ob sie ihr Lebenswerk vollendet hat. Aber mal ganz ehrlich, es gibt so gut wie nie ein gutes, bzw. ein richtiges, ein passendes Ende für ein Leben. Wie sollte es für Fäden anders sein?
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