Ein Opfer
Noch ein weiterer Schritt und ich bin tot.
Das weiß ich genauso gut wie der Scharfschütze, der auf mich zielt. Ich wäre auch ganz schön blöd, den roten Punkt auf meiner Brust zu übersehen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist und einfach nicht mehr verschwinden will.
Dabei ist das Ziel schon zum Greifen nah. Nur noch wenige Meter trennen mich von dem Kontrollpult, von dem aus die halbe Stadt in die Luft gejagt werden könnte – vorausgesetzt, es gelingt mir nicht, es zu deaktivieren. Da meldet sich mein technischer Support Jem in meinem Ohr: „Rose, was ist los? Wieso gehst du nicht weiter? Du hast keine Zeit mehr!“
„Ich weiß“, hauche ich. Niemand hier hat noch sehr viel Zeit, wenn ich scheitere.
„Scanne bitte das gegenüberliegende Gebäude. Dort hockt ein Scharfschütze“, erkläre ich mit fester Stimme. Am anderen Ende der Leitung sind wüste Flüche zu hören. „Ich schicke Verstärkung. Bring dich in Sicherheit und rühr dich nicht vom Fleck!“
Mein Blick fällt auf die roten Ziffern, die auf einem Monitor blinken. Wenn ich mich in Sicherheit bringe, sterben alle anderen.
In der Ausbildung haben wir gelernt, dass wir niemals unüberlegt handeln sollen. In der Zentrale haben sie den besseren Überblick, wir sollen uns strikt an ihre Befehle halten.
Und das habe ich immer getan. Ich bin eine vorbildliche Agentin. Aber jetzt kann ich das nicht mehr sein.
Mein Leben gegen das unzähliger Anderer – was gibt es da groß zu überlegen? Wozu brauche ich Verstärkung?
Ich atme tief durch und tue etwas, das ich noch nie getan habe: Ich überlasse meinen Instinkten und Gefühlen die Kontrolle.
Hals über Kopf, ohne einen konkreten Plan, stürze ich nach vorne. Ich sprinte im Zickzack durch den Raum und höre ein ohrenbetäubendes Krachen, als hinter mir eine Kugel einschlägt. Ich ignoriere es, genauso wie Jems aufgebrachtes Brüllen. Als ein weiterer Knall ertönt, werfe ich mich zu Boden und lege das letzte Stück rollend zurück. Dann bin ich endlich beim Kontrollpult. Hektisch blicke ich mich um, doch der rote Punkt ist verschwunden. Gut. Dann habe ich vielleicht noch mehr Zeit, als erhofft.
Ich verbanne ihn aus meinen Gedanken und konzentriere mich voll und ganz auf die zahlreichen Knöpfe vor mir. Die Steuerung der Bomben ist nicht schwer zu durchschauen und es gelingt mir schnell, sie alle zu deaktivieren und sogar die Koordinaten an die Zentrale zu vermitteln.
Erleichtert lasse ich mich zu Boden sinken. Ich sollte wohl den üblichen Stolz fühlen, aber das einzige, was ich spüre, ist eine unangenehme Leere, als würde noch irgendetwas fehlen.
Plötzlich ist der rote Punkt auf meiner Brust wieder da.
Diesmal wird er weder warten noch verschwinden, dessen bin ich mir bewusst. Der Scharfschütze muss seinen Job erledigen, genauso wie ich meinen erledigt habe. Das nehme ich ihm nicht übel.
Ich bereue meine Entscheidung nicht. Ich sterbe, um unzählige andere Leben zu retten. Und macht nicht genau das einen Menschen aus – wie er stirbt?
Auf meinen Lippen liegt ein Lächeln, als mich die Kugel trifft.
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