Ein Schritt
Vorsichtig öffne ich die Augen. Verwirrung. Wo bin ich? Es ist dunkel und ein leises Piepen schlägt im Gleichgang mit meinem Puls. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase und lässt meine Augen zu tränen anfangen. Alles ist weiß und grau, wie wenn meine Augen einen Schwarz-Weiß-Filter aktiviert hätten. Mein Kopf fängt an zu brummen und fühlt sich plötzlich tonnenschwer an. Gequält schließe ich die Augen wieder.
Die Aussicht ist grandios. Ein Meer aus Rottönen erstreckt sich über den gesamten Himmel, während die Sonne den Horizont küsst und ihre Wärme meine Haut angenehm prickeln lässt.
Der stetige Verkehrslärm ist hier oben kaum noch wahr zu nehmen und lässt mich so aus dem bedrückenden Alltag entfliehen. Ein Hochhaus säumt das andere und dies zerstört die perfekt geradlinige Abgrenzung zwischen Himmel und Erde.
Ich habe vergessen, was ich eigentlich hier oben mache und bin wie berauscht von dem Gefühl der Freiheit. Einen Schritt weiter und ich würde sie spüren, dieses Gefühl der vollständigen Unabhängigkeit.
Langsam schlage ich meine Augenlider wieder auf. Grelles Licht blendet mich. Ein Schmerz jagt durch mein gesamtes rechtes Bein und es fühlt sich an, als ob tausende Nägel meine Haut durchbohren würden. Meinen rissigen und spröden Lippen entweicht ein schmerzendes Keuchen. Mit der Absicht diesen unermesslichen Qualen zu entfliehen, verhülle ich meine Augen wieder mit einem Vorhang der Dunkelheit und Taubheit.
Adrenalinschübe durchströmen meinen gesamten Körper und lassen mich totale Schwerelosigkeit fühlen. Ich will mich mein ganzes Leben so fühlen.
Am Rande meines Verstandes nagt ein ungutes Gefühl, welches mich kurz erschaudern lässt. Was suche ich hier oben? Mach, dass du wieder herunterkommst. Ich dränge es beiseite. Plötzlich höre ich durch den Nebel meines Gehirns eine Stimme. Wer wagt es, mich in diesem besonderen Moment zu stören?
„Hey, du hast die Wette ja schon gewonnen. Du kannst wieder von der Mauer runterkommen.“ Aber wieso sollte ich? Bloß noch einen Schritt und ich würde nie wieder das Gefühl der Beengung spüren, würde nie wieder diese Verzweiflung fühlen. Einen Schritt und ich wäre befreit, ein Schritt und ich wäre ich.
Leichte Brisen umstreichen und liebkosen meine Wangen und als hätte der Wind meine Gedanken wahrgenommen, schickt er mir plötzlich einen heftigen Windstoß, welcher mich völlig unvorbereitet trifft, mich aus meiner Trance reißt und ich nach hinten falle, falle und falle.
Stimmen lassen mich hochschrecken und so fange ich vorsichtig an zu blinzeln. Mein Körper fühlt sich an wie gelähmt. Ein Mann mit grauen Schläfen und weißem Kittel betrachtet mich forschend. Scham lässt meine Wangen erröten, als ich mich an das Ereignis erinnere, welches mich hier in diese Situation gebracht hatte.
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