Ein tödliches Wortgefechtvon Anna Bilek
Sie läuft. Lief schon immer und läuft immer noch davon. Seit Ewigkeiten. Weit weg. Weit weg, aber sie weiß nicht wohin. Wusste noch nie, wohin eigentlich genau. Wohin des Weges? Wald um sie herum, Bäume, die bis in den Himmel ragen, nasse Erde unter ihren Füßen, ein Windstoß, der ihr Gänsehaut bereitet, Dunkelheit. Wo ist sie?
Sie ist nicht allein. Sie läuft. Läuft links, läuft rechts, gerade aus, ab und zu blickt sie zurück. Ein Labyrinth vor ihr, hinter ihr, links und rechts um sie herum. Jedes erneute Abbiegen könnte eine Sackgasse bedeuten. Dann ist sie endgültig verloren. Bedeutet: Für immer in seinen schmutzigen Händen.
Nichts zu sehen. Durchatmen. Durst. Sie braucht Wasser, dringend Wasser und eine kurze Pause. Oder hat sie doch nur Wissensdurst? Wissensdurst nach Auskunft. Nach einer Lösung. Sie bräuchte dringend Antworten auf ihre Fragen. Informationen über den Dämon, der sie schon so lange verfolgt. Aber die bekommt sie nicht, also läuft sie weiter. Sie läuft, das kann sie gut. Läuft schneller, läuft am schnellsten. Ist überanstrengt, sehnt sich nach Ruhe, nach ihrem Bett. Kurze Pause. Atmen. Warten. Wo ist er?
Erinnerungen schwinden, der Realitätsbezug geht verloren. Sie fühlt sich kopflos. Schneller als je zuvor, schneller als sie je zu denken vermochte, dass sie könnte, läuft sie. Laufen, rasen, rennen. Als hätte sie nie etwas anderes getan. Professionelle Läuferin könnte man meinen. Aber das ist sie nicht. Bloß gezeichnet von ihren Erfahrungen. Gezeichnet vom Leben. Denn jeder Mensch ist Kunst. Gezeichnet vom begabtesten Künstler, der die verschiedensten Facetten des Menschen zum Vorschein bringt: das Leben. Das Leben jedes Einzelnen. Jeder von uns hat ein individuelles Porträt – und es erzählt eine Geschichte.
Er kommt näher, sie kann ihn hören. Schwere Schritte, laute Schritte, sie hat Angst. Das Mädchen läuft weiter. Ziellos gerade aus. Planlos in die Dunkelheit. Gedankenverloren ins Nirgendwo. Ab ins Unentdeckte. Sie hört den Verfolger hämisch lachen, er hat einen Plan. Voll von trügerischen Plänen und sie komplett planlos. Planvoll – planlos. Böse – Gut. Der Mörder – die Verfolgte. Das sind die Gegensätze, die sie ausmachen. Sie und den Übeltäter.
Ihre einzige Rettung: Das Laufen – bis ihr Körper den Geist aufgibt. Erschöpft vom ständigen Davonlaufen. Davonfliegen. Das würde sie gerne. Flattern wie ein freier Vogel, so würde er sie nie bekommen. Sie läuft indessen weg vor ihren Problemen. Die Frage ist jedoch: Offensive oder Defensive. Einlass oder Rückzug. Mutausbruch oder Wutausbruch, weil sie es wieder nicht auf die Reihe bekommen hat. Es wieder nicht geschafft hat, sich ihren Gefühlen stellen. Aber sie kann nicht in ein offenes Messer laufen. Verstecken ist jedoch auch sinnlos, denn ihr Verfolger weiß ohnehin alles. Ihren genauen Standort. Ihren Status. Ihre momentane Stimmung und Verletzbarkeit. Ist ebenso treffsicher. Würde sie überall finden. An jedem Ort, in jedem Winkel und jeder Ritze, an jedem noch so geheimen Platz.
Maskiert. Komplett in schwarz. Das Aussehen ihres Verfolgers bleibt ein Mysterium. Keine Gesichtszüge, keine Silhouette erkennbar. Ein Phantom. Doch nur Illusion? Halluzination? Mist. Alles schwarz. Plötzlich wird alles um sie herum schwarz. Sie hört und sieht nichts mehr. Totenstille. Eine Sekunde unachtsam. Eine Sekunde zu viel fluchen. Eine Sekunde zu viel nachgedacht. Er hat sie. Unverkennbar, er hat sie tatsächlich.
Sie sitzt auf einem Stuhl. Benommen, immer noch halb ohnmächtig. Schlafmittel intus. Wie viele Stunden sind vergangen? Oder waren es gar Tage? Wo ist sie? Was macht sie hier? Sie blickt kurz an sich runter. Und fühlt sich immer noch kopflos. Sie ist gefesselt. Ihre Arme fest zusammengeschnürt. Die Hände hinter ihrem Rücken auf der Sessellehne zusammengebunden, sodass ihr Blut nicht mehr zirkulieren kann. Füße an den Sesselbeinen befestigt. Mund zugeklebt mit extra starkem Klebeband. Sie will schreien.
„HILFE!“ – der Kopf will sich Gehör verschaffen. „Du kannst nicht zulassen, dass es zu Ende geht mit ihr! Rette sie – tu etwas!“, versucht der Kopf, die Stimme der Vernunft, dem Hals mitzuteilen. Aber dieser ignoriert ihn. Und das Mädchen nimmt den Kopf schon lange nicht mehr wahr. Auch handeln tut sie meist kopflos. Aber dafür halsvoll. Sie sitzt da, abgeschottet von der Außenwelt, ist von kompletter Dunkelheit umgeben. Totenstille. Die Stille des Todes. Nur ihr Kopf könnte sie noch retten. Nur ihr Kopf könnte sie noch vor einer Hals-über-Kopf-Entscheidung bewahren. Aber er ist zu leise, momentan nutzlos und definitiv Antagonist in diesem Drama. Sein Feind: der Hals – die unüberlegten Entscheidungen. Er ist des Desasters Protagonist.
Die Tür geht auf, ganz schnell und laut. Das Mädchen zuckt zusammen. Der Täter kommt auf sie zu. Er hat den Körper von einem und die Köpfe von dreien. Drei maskierte, furchterregende Gestalten. Drei Messer sind gezückt. Angst hoch drei. Panik hoch tausend. Sie weiß immer noch nicht, wer sich hinter den Masken verbirgt. Kann niemand Bestimmten vor ihr erkennen. Doch nur Illusion? Halluzination?
Die Lage wird kritischer. Kopf gegen Hals. Vernunft gegen Leichtsinn. Entscheidung Hals über Kopf oder Kopf über Hals? „Sie muss erlöst werden. Muss von uns gehen! Des Mädchens bereits tote Seele wird eine Einheit mit ihrem bald absterbenden Organismus bilden. Ganz und gar tot. Innen wie außen erloschen. Und ich werde tun, was in meiner Macht steht.“ – mit diesen Worten beendet der Hals das Wortgefecht mit dem Kopf. Und die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Erster Stich. In des Mädchens Oberschenkel. Sie spürt das Blut, das aus ihrem Körper fließt. Spritzt und nicht mehr aufhört, ihren zitternden Körper zu verlassen.
Zweiter Stich. In ihren Bauch. Nun schon zwei Öffnungen, die sie immer mehr zu einem blassen, dem Tod immer näherkommenden Geschöpf mutieren lassen.
Dritter, vierter, fünfter Stich. Es scheint sich ewig fortzusetzen. Blut spritzt. Spritzt überall hin. Der Boden, die Wände, die maskierten Gesichter und ihre Messer. Alles blutrot. Alles bluttot.
Letzter Stich. Mitten ins Herz. Zielsicher in die Stelle, in der alles zusammenläuft und seinen Ursprung hat. Ihr Herz. Man kann es nicht mehr reparieren. Unmöglich. Raus, rein. Rein und nochmal raus. Das Messer rammt sich in ihr Herz mit unzähligen Stichen. So, wie eine Nähmaschine auf einen Stoff einsticht. Aber aus ihr entsteht kein wunderschönes Kleid oder eine schicke Bluse. Ihr wird in diesem Moment das Schimmernde, Glänzende, das Weiterentwickeln genommen. Ihr Herz wird immer kaputter – ohnmächtig, kaum mehr am Atmen, zuckend, ums Leben kämpfend, aber doch tot. Es ist tot. Sie ist tot. Ermordet von den gefürchtetsten Massenmördern der heutigen Zeit – den Gefühlen. Verfolgt von den eigenen Empfindungen. Tod aufgrund zu starker Emotionen. Niemand weiß sie zu verstehen, keiner kann sich vor ihnen schützen. Agonie, Einsamkeit und Schwermut scheinen diesmal die Übeltäter gewesen zu sein.
Happy End? Wunschtraum.
Jahrelang davonlaufen, bis sie einen doch übermannen? Bittere Realität.
Morgen in der Zeitung: „Mädchen tot. Zig Messerstiche, jedoch keinerlei Spur eines Täters. Die Leiche hatte blutverschmierte Hände. Vermutung auf Selbstmord.“ Hals über Kopf von den eigenen Gefühlen übermannt worden. Hals hat über Kopf gesiegt. Eine Kurzschlussreaktion.
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