Eine andere Welt
Ich schaue in den Spiegel. Ich sehe nicht gut aus, vielleicht brauche ich mehr Schlaf. Ich blinzle. Mein Spiegelbild ebenfalls. Langsam hebe ich meine rechte Hand, mein verkehrtes Ich hebt die linke. Was geht wohl in seinem Kopf vor? Vielleicht liegt hinter den Spiegeln eine verborgene Welt. Eine spiegelverkehrte Welt. In dieser Welt ist alles gleich. Die Erlebnisse der Personen, ihre Gedanken und ihre Gefühle. Das vor mir bin praktisch ich. Bloß spiegelverkehrt. Also was unterscheidet mein Ich aus der anderen Welt von mir? Bin das ich? Ich lege meine Hand gegen meine spiegelverkehrte Hand. Ich starre in meine Augen. Vielleicht habe ich eine andere Augenfarbe, diese werde ich doch nie außerhalb des Spiegels sehen. Mein anderes Ich starrt zurück. In seiner Welt starre ich zurück. Vielleicht denkt es sich gerade dasselbe wie ich: Bin das ich? Wer von den beiden bin ich? Bin ich beide? Ich blinzle. Mein Spiegelbild tut es mir gleich. Hat es gerade noch einmal die Augen geschlossen? Hat es einen eigenen Willen? Oder bilde ich mir das bloß ein? Der Druck zwischen unseren Handflächen wird stärker. Was trennt uns? Die Glasfläche? Ist dahinter mehr? Die andere Welt? Ich will die Hand meines Spiegel-Ichs berühren, nicht nur das Glas. Ich presse meine Hand gegen den Spiegel. Gegen das Tor zu der anderen Welt. Mein Ich tut es mir gleich. Der Spiegel springt, ein kleiner Riss entsteht. Ich spüre die Wärme der anderen Hand. Ich sage mit vor Verzweiflung brüchiger Stimme: "Geh, bitte geh! Damit ich sehen kann, dass du einen eigenen Willen hast! " Ich höre nur meine eigene Stimme, obwohl auch mein anderes Ich zu sprechen scheint. Ist es stumm? Ist das Glas schalldicht? Ich schreie, um es herauszufinden. Die Scheibe unter meinen Fingern erzittert. Der Sprung wird ein wenig größer. Ich höre bloß meinen eigenen Schrei und den Schall dessen. Hört mich mein anderes Ich? Ich schreie lauter. Plötzlich höre ich es. Im selben Moment wie mein Spiegel-Ich. Wir hören einander. Wir erschrecken, sehen einander ungläubig an. Es gibt mich in einer anderen Welt, die niemand sonst kennt. Durch die Scheibe berühren wir einander. Spiegelverkehrt lächeln wir einander wissend an. Nur wir beide wissen es. Wissen voneinander. Der Druck zwischen unseren Händen wird stärker. Der Sprung wird größer. Ich möchte nicht mehr warten. Ich schlage gegen den Spiegel. Ein Spinnennetz zieht sich über ihn; meine Hand blutet, aber es tut mir nicht weh. Der Spiegel ist zerbrochen. Ich sehe mein Ich verzerrt. Ich komme nicht in die andere Welt. Zurück bleiben Scherben und Gewissheit.
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