Eine schwere Frage
Die Worte der Lehrerin waren nur ein dumpfes Hintergrundgeräusch in den Leben der Schüler. Ihre Blicke waren desinteressiert, ihre Aufmerksamkeit vorgespielt und die Lehrerin müde von der Arbeit und dem Lohn, den sie nicht zu erhalten schien. Müde von der Dankbarkeit, die ausblieb. Aus dieser lähmenden Trübseligkeit heraus erhob sich ein Schüler. Seine müden Beine hatten es geschafft seinen Körper zu heben. Für einen Moment waren alle still. Niemand rührte sich. Niemand wusste was er tun sollte. Die Professorin setzte gerade an zu sprechen, als der Schüler den Raum mit seiner kindlichen Stimme erfüllte.
„Was bedeutet genug?“ Es wurde wieder still. Niemand kannte die Antwort. Niemand wusste, was zu sagen war.
„Was meinst du?“, fragte die Lehrerin.
„Ich denke viel darüber nach, was andere sagen und tun und wie sie sich verhalten und alle scheinen zu denken sie wären oder hätten genug.“
„Genug von was?“
Der Schüler blickte nach links und zeigte auf einen Mitschüler. „Er zum Beispiel. Er denkt, er wüsste genug, denn er kann in den Stunden einfach mit seinem Sitznachbarn reden und muss nicht zuhören, denn er weiß bereits was er wissen muss.“ Er drehte seinen Kopf nach rechts. „Oder sie. Sie findet sie ist hübsch genug. Niemand kann je so hübsch sein wie sie.“ Erneut drehte er seinen Kopf, sah zur Lehrerin. „Und Sie. Sie denken nicht nur, dass Sie genug sind, Sie denken, Sie sind besser. Besser als wir; besser als alle.“ Er pausierte. Die Klasse schwieg. Dann sah er an sich herunter. „Und ich? Ich denke nicht, dass ich genug bin. Wie könnte ich? Uns wird beigebracht, dass wir immer mehr lernen müssen und nie ausgelernt haben. Wir können wohl nie genug wissen, oder? Und uns wird immer erzählt, was Schönheit bedeutet. Es wird Perfektion verlangt, auch beim Aussehen. Man ist entweder Perfekt oder nicht genug, habe ich da Recht?“
Die Lehrerin stand wie angewurzelt da, konnte ihren Blick nicht von dem Schüler wenden. Die Antwort auf die Frage des Schülers war unauffindbar und die passende Reaktion hatte sich am selben Ort wie die Antwort versteckt. Alle Augen lagen auf dem einen stehenden Schüler.
„Werde ich je genug sein?“
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX