Eine Spinne namens Augenblick
In den Tiefen des grünen Waldes hauste, abseits all jener Pfade, die man als herkömmlich bezeichnen würde, ein wohl eher sonderbares Geschöpf. Für gewöhnlich würde sich diese recht außergewöhnliche Kreatur nur gelegentlich zeigen, doch da nun die Sonne durch die Kronjuwelen der Bäume strahlte und ihre Wärme auf das Waldleben so ausgiebig verbreitete, konnte das Geschöpf nicht anders als zwischen den Ästen und Blättern ihres Brombeerbusches hervorzukriechen und sich der schimmernden Sonnenstrahlen zu begnügen. Sobald sie hervorgekrochen war und die Sonne zu Gesicht bekam, da reflektierte das Licht auch schon ihre acht Augen, und die restlichen Geschöpfe des Waldes sahen, wie auf den grünen Blättern rote, blaue und gelbe Lichter umhertanzten. Ja, die Kreatur hatte acht Augen – ebenso hatte sie acht von der Sorte, welche ihr als Beine dienten – sie war eben eine Spinne. Hier im Wald nannte man sie „Augenblick“. Augenblicks acht Augen glitzerten wie Edelsteine im Licht – jedes ihrer Augen hatte eine andere Farbe; darunter ein grünes, ein braunes, ein blaues und ein gelbes, ebenso wie ein rotes, ein orangenes, ein violettes und auch ein schwarzes. Ihre langen Beine, wenn man sie so nennen konnte, setzten sich aus vier Spinnenbeinen und vier menschlichen Fingern – je zwei an jeder Seite - zusammen und lagen still in der Sonne.
Doch Augenblicks Aussehen war nicht das einzige sonderbare an ihr. Sobald ein Mensch ihr in eines ihrer Augen blicken würde, würde Augenblick nicht nur innerhalb des nächsten Augenblickes verschwunden sein, nein, ihre Augen gaben den Menschen eine Aufgabe, und ihre verschiedenen Finger-Beine dienten als Wegweiser – angepasst an jede Person, die Augenblick genug Aufmerksamkeit schenken würde und ihr in die Augen blickte. Doch auf welchen Weg die Menschen dieses Treffen führen würde, lag nicht in der Hand Augenblicks.
So kam es, dass wohl tatsächlich ein Mensch den unscheinbaren Pfad, der zu Augenblick führte, entdeckte und zu betreten wagte. Er schien sich nichts zu sorgen, doch die Bewohner des Waldes empfanden eine nur schwer erklärliche Unruhe. Alsbald schon hatte der Mensch Augenblick auf ihrem Blatte entdeckt und blickte ihr direkt in ihr schimmerndes blaues Auge, welches ein blasses Licht auf sein Gesicht zurückwarf. Es dauerte nicht lange und schon hatte der hypnotisierende Blick Augenblicks einen Gedanken in seinen Geist gepflanzt, jedoch wusste die Spinne plötzlich nicht, welchen Weg sie dem Fremden weisen musste. Binnen eines kurzen Momentes sah Augenblick ein großes Etwas auf sie herabfallen und schon war der Augenblick vorüber. Augenblick fiel zu Boden, ihre acht Wegweiser, wie zum Schutz, über ihren Bauch eingezogen. Etwas Blaues quoll aus ihrem Leibe, als der Mensch über Augenblick hinwegstieg und seines Weges ging, während die Natur schwieg; zutiefst erschrocken über die Folge eines so kurzen Augenblickes.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX