Eins ohne Ende
Regen strömt und ihre Augen folgen den Tropfen an ihrem Fenster, die, wie um die Wette, das Glas hinunterschlittern. Kurz darauf folgen ihre Tränen dem Wasser an der Scheibe, als würden sie daran teilnehmen wollen. Ihr Blick senkt sich zu Boden und eine weitere Träne fällt zu den staubigen Holzdielen am Grunde des Raumes.
Das Mädchen hat ihr ganzes Leben damit verbracht, herauszufinden, welche der einzelnen Holzstücke knarrt und welche nicht. Wenn sie morgens aus ihrem Bett, dessen Überzug seit Monaten nicht gewechselt wurde, über den Kleiderhaufen neben dem linken, vorderen Fuß des Bettgestells steigt und anschließend in ihr muffiges Badezimmer klettert, weiß sie genau, auf welche Dielen sie treten darf, damit ihre Eltern im Zimmer nebenan nicht aufgeweckt werden. Diese Prozedur meistert sie seit mittlerweile genau einem Jahr. Heute vor genau einem Jahr war der Tag, an dem alles anfing. All der Schmerz, all die Trauer, all die Tränen, die täglich auf besagte Holzdielen fallen. Ihre Augen rot, als habe sie gekifft, ihre Nase verstopft, als wäre sie krank und ihre Stimmung, als sei sie bis zum Meeresgrund gesunken. Es nimmt kein Ende. Jeden Morgen, wenn sie ihre Augen, zu ihrem Leiden, noch einmal öffnet, erblickt sie das Bild. Das Bild in einem vergoldeten Bilderrahmen, das von weiteren Kleidungsstücken umhäuft auf ihrem längst vergessenen Schminktisch steht. Sie und Kilian. Eng umschlungen an Silvester letzten Jahres. Jeden Morgen ist das erste, das sie erblickt Kilian. Sie erlangt nicht die Kraft, das Bild zumindest umzuklappen und den ersten Schritt zu machen, um sich von dieser Qual zu entbinden. Es nimmt kein Ende. Heute vor einem Jahr. Kilian. Eine Flasche Vodka und sein Brief. Sein Brief, in dem er sein Verlassen kundtat. „In Liebe, Kilian“. Von wegen „In Liebe“, sonst wäre er nicht gegangen. Seit diesem Tag, hat sie nichts mehr von ihm gehört. Er ist wie ein Geist. Plötzlich war er weg und für immer verschwunden. Sie weiß nicht einmal den Grund seines Gehens.
Eine weitere Träne fällt auf den Fußboden und sie greift zu ihrem Geheimfach hinter ihrem Nachtschrank. Sie fasst das kleine Täschen und ergreift die Klinge des Stanley Messers, das sie aus der Werkstatt ihres Vaters abgezogen hat. Daraufhin streift sie den Ärmel ihres Pullovers bis zu ihrem Ellbogen hinauf und benutzt das scharfe Stück. Nimm endlich ein Ende, denkt sich das Mädchen. Sie hat keine Kraft mehr, um all die Qualen zu ertragen. Doch es hat kein Ende. Ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Bis jetzt konnte sie ihre Leiden gut verstecken, denn sie will nicht, dass jemand davon Wind bekommt. Sie war immer schon das kleine Sorgenkind der Familie und wenn jetzt ihre Probleme ans Tageslicht kämen, würden erst recht alle verrückt spielen. „Die Zeit heilt alle Wunden“. So sagt es Tante Marie jedenfalls. Doch ein Jahr müsste genug sein. Ein Jahr voller Schmerz. Ein Jahr voller Trauer. Ein Jahr. Eins. Eins ohne Ende.
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