Einschlafen
„Habe ich genug?“
Eigentlich eine simple Frage, auf die man mit „Ja“ oder „Nein“ antworten kann. Aber wer kennt sie nicht, diese Gedanken, die einen abends überfallen, während man in seinem Bett liegt und versucht in das Reich der Träume zu gelangen. Minuten, gefühlte Stunden, starrt man an die Zimmerdecke und ein Gedanke folgt dem nächsten: „Was wäre passiert, wenn ich heute dies, statt jenem getan hätte?“, „Was soll ich morgen anziehen?“, „Hätte ich doch nur dies schon erledigt“. Unser Kopf lässt sich nun mal nicht abschalten und genau das möchte er uns kräftig spüren lassen.
Ich liege also, so wie jeden Tag, in meinem Bett und bereite mich darauf vor, Gedanken um Gedanken durchzuarbeiten, damit der Schlaf über mich kommen kann. Aber heute ist es anders. Wobei nein, eigentlich ist es bereits seit geraumer Zeit nur noch diese eine Frage, welche mir das Einschlafen zu nehmen vermag. „Habe ich genug?“ Kein anderer Gedanke folgt diesem. Seit Abenden. Immer nur diese Frage. Ich habe vehement verweigert, mich der Beantwortung dieser zu stellen, aber ich denke, es wird Zeit:
„Habe ich genug?“ Ja oder nein? Ich habe eine wunderschöne Kindheit gehabt. Spielzeugberge türmten sich und täglich spielte ich draußen an der frischen Luft. Ich wurde älter, fand viele gute Freunde, lachte ununterbrochen. In der Schule war ich gut und jeder versprach mir eine aussichtsreiche Zukunft. Meine Eltern unterstützten mich bei allem, mag es noch so dumm gewesen sein. Ich liebte sie. Ich lebte meinen Traum, ich durfte viel reisen, meine Interessen in und durch meinen Job ausüben und ich durfte mich verlieben. Meine erste Liebe und meine einzige. Zumindest dachte ich dies, doch zwei kleine Wesen, unsere Kinder, stahlen mir ebenfalls mein Herz. Die Zeit verging viel zu schnell und ehe ich mich versah, begannen sie ihren eigenen Lebensweg zu bestreiten. Ich wurde Oma und so verschenkte ich mein Herz erneut. Wie ironisch. Ein Herz hat jeder Mensch, aber so viele werden verschenkt und gestohlen, dass jeder von uns viel mehr davon in sich tragen müsste. Das Alter kann auch Herzen nehmen und vor allem brechen. Mein Mann starb, friedlich und ruhig. Meine Kinder zogen außer Landes, aber waren dennoch immer bei mir. Zu Feiertagen besuchen sie mich oftmals, so wie gestern. Es war mein 93. Geburtstag. Alle waren wir versammelt, alle waren wir vereint. So viel Liebe in einem einzigen Raum…
Ich lächle. Meine Augen wenden sich von der Zimmerdecke ab und schließen sich sanft. Ruhig atme ich ein und schon kommt diese simple Frage wieder in meinen Kopf: „Habe ich genug?“. Noch einmal überkommt mich ein Schmunzeln, bevor mir ein ganz leises „Nein“ über die Lippen kommt. Nein, nein ich habe nicht genug. Ich hatte genug. Und mit diesem Gedanken atme ich, ein allerletztes Mal, aus.
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