Endlich genug
Das Blut tropfte von ihren Händen. Es war nicht ihres, obwohl sie sich wünschte, dass der leblose Körper, der vor ihr lag, ihrer wäre. Sie warf das Messer auf den Boden und brach vor der Leiche zusammen. Nicht schon wieder, dachte sie sich. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Zur Polizei gehen und sich stellen? Es war ja nicht direkt ihre Schuld und ihr war klar, dass niemand sie verstehen würde.
So viele Sachen hatte sie schon probiert, aber nichts konnte Annie stoppen oder zurückhalten, sobald sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Annie war zwar zu schwach um sich immer an der Oberfläche aufzuhalten, aber stark genug um immer wieder die Kontrolle zu haben. In den Zeiten, in denen sie abtauchte, sammelte sie ihre Kräfte, um ihre geplanten Taten zu vollbringen. Nichts konnte ihren Blutrausch befriedigen. Annie hatte nie genug.
Verzweifelt stand sie auf, wissend, dass dieses Monster in ihr mehr wollte und nur auf die nächste Gelegenheit wartete. Sie fragte sich, ob Annie wohl je genug hätte und nicht mehr aufkreuzte, um ihr Leben zu zerstören und das von anderen zu beenden. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie die fremde Person ansah, die vor ihr lag. Sie konnte den Anblick nicht mehr ertragen und lief weg. Schuldgefühle verfolgten sie. Sie konnte spüren, wie Annie stärker, gewalttätiger und grausamer wurde.
Wäre sie doch damals nicht allein in den Wald gegangen, dann wäre sie dem Fremden nie begegnet, der sie bedrängte und zu erwürgen versuchte. Sie hätte nicht zusehen müssen, wie Annie plötzlich zum Vorschein kam und die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Sie war damals noch froh, dass sie diesen Kampf gewonnen hatte, aber sie war ganz verwundert über das, was gerade geschehen war.
Ihr war noch immer nicht klar, warum Annie so plötzlich auftauchte. Oft zerbrach sie sich den Kopf darüber. Ihr war nicht einmal klar, wer oder was Annie war. Und es half auch nicht, dass Annie nie sprach. Sie hatte bei ihrem dritten Erscheinen mit dem Blut des Opfers auf den Spiegel „Annie“ geschrieben, aber das war das einzige, was sie je über sich preisgab. Spätestens ab da war ihr klar, dass Annie nicht aus Notwehr handelte, sondern aus Lust am Töten.
Jedes mal, wenn sie versuchte sich umzubringen, kam Annie, stoppte sie und nahm statt ihrem Leben das eines anderen. So ließ sie ihr keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis.
Ein lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Sie fand sich selber mitten auf einer Straße und in ihrem Augenwinkel sah sie einen Bus direkt auf sich zukommen. Annie hatte genau so wenig aufgepasst wie sie und es gab keine Möglichkeit zu entkommen. In der letzten Sekunde schrie sie auf: „Endlich genug!“
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