Entfremdung
Theresa muss den Schlüssel zwei Mal im Schloss drehen. Die Mutter hat schon für die Nacht abgesperrt.
„Wo warst du so lange?“, kommt es aus dem Wohnzimmer.
Theresa zieht ihre Schuhe aus, ohne die Schuhbänder zu öffnen, und stellt sie in das Holzkästchen. Sie geht an der angelehnten Tür des Bruders vorbei. Er murmelt etwas im Schlaf. Theresa steckt den Kopf ins Wohnzimmer.
„Hallo.“
„Hallo. Was hast du noch so lange getrieben? Es ist schon nach elf.“
„Ich war noch bei Martha daheim Kaffee trinken.“
„Sag nächstes Mal Bescheid, wenn du länger weg bleibst.“
„Mir passiert eh nichts.“
„Es wäre mir trotzdem lieber.“
„Wenn du meinst. Ich gehe jetzt ins Bett.“
„Aber sei leise im Bad, der Kleine schläft.“
Theresa legt die Tasche in ihrem Zimmer ab und geht ins Badezimmer, um sich ihre Zähne zu putzen und sich umzuziehen. Als sie wieder ins Wohnzimmer geht, knarrt der Boden unter ihren Füßen.
„Willst du mitschauen?“
Die Mutter deutet auf den freien Platz auf dem Sofa. Theresa setzt sich neben sie. Die Mutter streicht ihr übers Haar.
„Du weißt, dass ich das nicht mag.“
„Entschuldigung.“ Die Mutter zieht ihre Hand zurück.
„Können wir umschalten?“
„Ich will noch kurz fertigschauen.“
„Es war nett mit Martha. Sie hat mir von ihrer Studentenzeit erzählt. Vielleicht studiere ich wirklich Musik.“
„Wir könnten auch mal Kaffee trinken gehen.“
„Ja, schon.“
„Willst du am Samstag ins Café Rosie?“
„Samstag habe ich keine Zeit. Jens feiert Geburtstag.“
„Du bist ja gar nicht mehr daheim.“
„Ja, stimmt.“
„Was willst du jetzt schauen?“
Theresa steht auf.
„Ich glaube, ich gehe lieber ins Bett.“
„Vergiss nicht auf den Wecker. Ich muss morgen früher raus.“
„Ich werde Simon aufwecken.“
„Ich rufe dann an, ob alles passt.“
„Brauchst du nicht.“
„Trotzdem.“ Die Mutter nimmt die Fernbedienung und dreht den Bildschirm ab. Sie steht auf, drückt Theresa an sich.
„Schlaf gut“, sagt sie und die beiden lösen sich voneinander.
Noch einen Moment lang hüllt der vertraute Geruch Theresa ein, als die Mutter den Raum verlässt.
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