Epitaphevon Jeannine Tendl
Ich erinnere mich noch an unser erstes Zusammentreffen im März. Duftende Kräuter in bunten Hängetöpfen am Balkongeländer im zehnten Stockwerk. Selbstgebackener Erdbeerkuchen im kleinen Weidekörbchen, geflochten aus Rattan. Damals war uns John Everett Millais kein Begriff, Ophelia. Da warst du auch nur bis zum Kinn im Wasser, das Haar klebte an deinem Schädel wie schmelzendes Wachs. Dein Lächeln war stets staubtrocken und echt.
Ich hätte natürlich nicht erahnen können, dass deine Zehen nicht mehr den Grund fanden, ich hätte nichts daran ändern können, dass du in stummer Verzweiflung nach einer Hand suchtest. Für große Heldentaten war ich nämlich noch nie zu haben, denn mutig sein erfordert nun mal ein Ziel und, Ophelia, mir sagte doch jeder, der Weg sei das Ziel. Und an meinen Weg hielt ich mich brav.
Deiner führte jedoch hinab in die schwarze Tiefe der gefühlsarmen Menschheit, dein Ziel waren die elysischen Gefilde und Abkürzungen finden konntest du schon immer gut. Nicht, dass ich nun mit dem Finger auf dich zeigen will, denn ich bin ja auch nur ein kleines Stück deines Wegrands gewesen. Und, hätte deine Hand die meine gefunden, wäre es womöglich ganz anders gekommen. Dann würde ich womöglich an eine Kerstin, oder Gabi schreiben. Doch, wie du weißt, liebt jeder die Dramen Shakespeares und Komödien werden nur selten bekannt, wenn Dante sie nicht verfasst.
Als dein Kopf schließlich unter Wasser war, deine Haare sich wie Wurzeln gen Himmel streckten und deine Hand die Oberfläche nicht mehr fand, nahmst du dir die Worte des blinden Wächters zu Herzen. Du lauschtest dem letzten Lied der Barden, hattest keine Angst mehr vor heute und morgen und tratst übermütig den letzten Ritt des Tages an – dreißig Meter in die Tiefe. Meine Ophelia, im Unterbewusstsein ertrunken wie bei Hamlet. Deiner wird sich kein poetischer Maler mehr annehmen, nur mehr der Leichenbestatter.
Dort lagst du, zwischen Bahnhof und Park. Seelenlos. Ungeachtet. Bis dich die Unmutigen fanden. Siebentausend Männer und Frauen zerpickten den Fleck am Beton wie missmutige Raben, als wären sie einem Werk Edgar Allan Poes entsprungen, als hätten sie dich gekannt, Ophelia. Nimmermehr, nimmermehr, siebentausend Raben schrien wie aus einem Munde.
Und wie das halt so ist, wurde aus meiner Verleumdung Wut, ein grässliches Ungeheuer, mitten in meiner schmerzenden Brust. Wut auf dich. Wut auf siebentausend Menschen. Wut auf die siebentausend Schatten, die sie warfen.
Siebentausend „Opfer“, die Missgunst über einem fremden Grab laut machten. Siebentausend Zeugen, siebentausend stumme Trauerreden und kaum eine Grabkerze.
Nur siebentausend Worte hinter vorgehaltener Hand.
Und, obwohl sie meinten, sie hätten dich Schachblumen züchten sehen, die Mohnblumen seien herrenlos verwelkt und die Vögel in ihre gottlosen Zimmer geflogen, wussten siebentausend Wissende nicht, was auf deinem Grabstein stand.
Wenn mich dann die Wut überwältigt, mich der Zorn von innen zu zerreißen droht, nehme ich ein Feuerzeug zur Hand. Um die rabenschwarzen Schatten zu verjagen, zünde ich dann ein Räucherstäbchen an. Ich taufe es nach dir, Ophelia, denn es ist wie alles auf dieser Welt: vergänglich. Es ist vergänglich, von dem Augenblick an, an dem es in eine hexagon-förmige Schachtel aus Karton wandert. Genauso vergänglich, wie all seine neunzehn Artgenossen in derselben wohlduftenden Plastikverpackung, so vergänglich wie die Menschheit, so vergänglich wie der hellste Stern.
Räucherstäbchen sind besonders grotesk, weil du ihnen dabei zusiehst, wie sie die Lebenskraft verlieren. Da stehen sie noch groß und stolz in einer prunkvollen Messingschale und erfreuen dich mit ihren Düften, dann siehst du den schwarzen Stab langsam hellgrau werden. Risse wie blutlose Adern durchziehen den kleiner werdenden Funken Helligkeit. Kleiner und kleiner, die Asche fällt in die Schale, bis die Flamme erlischt wie die Fackel des Thanatos. Wie dein Lebenslicht.
Trotzdem beruhigen Räucherstäbchen auf eine traurige Art und Weise. Denn sie bringen Licht. Sie bringen Wärme. Sie bringen Freude. Deswegen, muss ich nun doch gestehen, habe ich mein Räucherstäbchen auch aus einem anderen Grund nach dir benannt, Ophelia: nicht nur vergänglich. Licht ins Dunkle bringend. Bei dir hatte die Gesellschaft jedoch zu viele Streichhölzer, und deswegen branntest du ab, bevor die letzte Asche fiel. Die Flammen der Unmut waren deine Abkürzung, dein Segen und dein Fluch zugleich.
Ophelia, meine Wut ist wie du, wie ein Stern, wie ein Räucherstäbchen. Sie vergeht. Du lehrtest mich die wahre Bedeutung von „memento mori“. Ich will nicht mehr an Weg und Ziel denken, nicht mehr an den Tod. Für mich heißt es von nun an „memento vivere“. Denn meine Uhr steht nicht mehr still, sie dreht sich weiter, so wie ich meine Sanduhr immer wieder umdrehen werde, wenn sie leer zu werden droht.
Dies ist mein erstes und letztes Schreiben an dich. Du hast deine Flügel in den Flammen verloren, doch genau wie ein Phoenix aus der Asche aufersteht, bringst du Neuanfänge. Dafür danke ich dir, Ophelia. Die Schatten wirken nicht mehr so finster und lang. Wir sehen uns, wenn mein letztes Räucherstäbchen abbrennt.
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