Er
Die Schule war langweilig gewesen, wie immer. Jetzt stand er an der Straßenbahnhaltestelle und wartete auf die Tram. Als die Straßenbahn endlich kam, zwängte er sich mit einem flauen Gefühl im Bauch in den Wagen. Sitzplatz bekam er um diese Tageszeit keinen. Doch damit hatte er bereits gerechnet. Er war deprimiert, seit längerem schon.
Seit „er“ weg war, bestand sein Leben nur mehr aus fadem Herumgetrotte. Er existierte zwar, doch den eigentlichen Grund für sein Dasein kannte er nicht.
Die stickige Luft in der Straßenbahn schnürte ihm die Kehle zu. Er klammerte sich an den Haltegriff über ihm und sah aus dem Fenster. Ein trüber, trostloser Novembertag.
Endlich konnte er aussteigen. Ein frischer Luftzug strich ihm um die Schläfen. Fast war es so, als spräche die Brise ihm Mut zu.
Das Wasser eines Flüsschens plätscherte am Rande der Allee dahin. Die Blätter in den Baumkronen raschelten. Das Rascheln erinnerte ihn an die langen Spaziergänge im vergangenen Herbst, als er mit „ihm“ die Wälder im Umland der Stadt erkundet hatte.
Er verfiel erneut in einen Zustand tiefer Melancholie.
„Hilfe!“ Ein Schrei drang an sein Ohr, er schaute sich um. Nichts. Keine Menschenseele zu sehen. So setzte er seinen Heimweg fort. „Pfoten weg, ihr Schweine! "
Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Das schien etwas Ernsteres zu sein. Die Schreie kamen von einem nahegelegenen Kinderspielplatz, einer netten, gepflegten Anlage, in der an ungezwungenen Sommernachmittagen Drei- und Vierjährige spielten. Er überlegte, weiterzugehen, dann hielt er doch inne. Vorsichtig näherte er sich dem Spielplatz. Er spähte zwischen den Zweigen einer Hecke hindurch und sah, was vor sich ging: Drei, vier Jugendliche mit Lederjacken und Springerstiefeln bedrängten ein sechzehn- oder siebzehnjähriges Mädchen. Sie schlug um sich und wehrte sich nach Kräften. Einer der Burschen schlug ihr mit der Hand ins Gesicht.
„Schnell weg!“, dachte er. Er tat drei Schritte. Die Schreie des Mädchens wurden lauter.
Er blieb er stehen. Er hörte nur noch die Schreie und das Rauschen des Flusses.
„Komm zu mir.“ Er vernahm eine Stimme. Sie klang vertraut und warm. „Soll ich hingehen?“ fragte er die Stimme.
Ehe er sich entschloss einzugreifen. „He, was macht ihr da?“, rief er, während er auf die Gruppe zuging: „Lasst das Mädchen in Ruhe. Was hat sie euch getan?“
„Wo kommt denn der Blindgänger auf einmal her“, sagte einer der Typen. „Mach dich vom Acker, Pissgesicht!“
Er ließ sich nicht einschüchtern. „Mach ich gern“, sagte er, während er sich vor den Angreifern aufpflanzte: „Aber die nehme ich mit.“ Er zeigte auf das Mädchen, das sich mit verheultem Gesicht gegen eine Hauswand drückte.
Einer der Typen – ein untersetzter, bulldoggengesichtiger Kerl, sagte etwas, das er nicht verstand. Gleichzeitig traf ihn ein Faustschlag in der Nierengegend, ein anderer zerschmetterte ihm das Nasenbein. Die Welt um ihn herum verblasste.
Rascheln. Rauschen. Er spürte nun nur noch das kalte Wasser. Jetzt würde er ihn bald wiedersehen.
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