Erinnern
Diese Schattierung blau traf sie nie, wenn sie ein Bild malte. Sie versuchte es, aber sie schaffte es nicht, weder mit Buntstiften noch mit Wasserfarben. Die junge Frau stand auf der Fußgängerbrücke und schaute auf den Fluss. Der Wind kräuselte das Wasser und spielte mit ihren Haaren. Aus dem kleinen Café am Kai roch es nach frischem Gebäck.
Das war einer dieser Momente, von dem man nicht wollte, dass sie vergingen, man wollte sie festhalten, aufbewahren, in eine Schachtel stecken und sorgfältig beschriften, um sie nicht zu vergessen, sie später noch einmal erleben zu können. Aber der Moment verging. Er verging, als sich eine ältere Dame mit zwei vollgepackten Tragetaschen auf jedem Arm an ihr vorbeidrängte und etwas vor sich hin grummelnd auf die Brückenstufen zusteuerte. Die junge Frau stieg von der Brücke und wahrscheinlich vergaß sie den kleinen Augenblick gleich wieder.
In diesem Augenblick fällt weit, weit weg eine kleine blaue Schachtel mit Wellenmuster ganz oben auf einen riesigen Haufen mit bunten Schachteln, Dosen und Marmeladengläsern. Alle sorgfältig beschriftet.
Ein gestresster Mann in Anzug und Krawatte eilte im Laufschritt durch den Park, der zwischen seinem Büro und der Straßenbahnhaltestelle lag. Als ihn zwei kleine Mädchen auf dem Roller überholten, blieb er stehen und lächelte. Er hatte als Kind den gleichen Roller gehabt.
Ein Marmeladenglas mit kariertem Deckel landet auf dem Berg.
Ein Eichhörnchen hüpfte von Ast zu Ast, begeistert beobachtet von zwei Kindern auf einer Schaukel.
Zugleich fällt eine kleine, sorgfältig beschriftete Holzschachtel auf dem Haufen.
Eine Mutter hob ihre dreijährige Tochter hoch und wirbelte sie durch die Luft. Ihre Haare flogen und beide lachten. Die Tochter würde es vergessen, die Mutter würde sich vielleicht sogar erinnern.
Eine bunt gestreifte Dose.
Mit jedem Augenblick, jeder Erinnerung wird der Berg größer, hört nie auf zu wachsen und wird doch nie zu groß.
Ein Marmeadenglas, eine grüne Schachtel, ein Glasfläschchen. Hier wird nichts vergessen.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX