Erinnerungen
Sie saß an ihrem Schreibtisch und brütete über einer Aufgabe. Es waren schon Stunden vergangen, seitdem sie sich so – Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf auf den Händen rastend, direkt über der kopfzerbrechenden Frage – hingesetzt hatte. Ihr nicht vorhandenes Vorankommen ließ sie an sich selbst zweifeln. Wenn sie jetzt, bei einer verhältnismäßig banal wirkenden Aufgabe, so lange brauchte, um auch nur ein wenig Fortschritt vorweisen zu können, wie sollte sie in nicht allzu ferner Zukunft komplexere Fragestellungen auch nur verstehen?
Sie stand auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, der hoffentlich ihre ausgelaugten Gehirnzellen wieder mit Energie versorgen würde. Sie merkte erst, wie abwesend sie gewesen war, als sie immer noch auf die nun volle Tasse – die, nur noch gelegentlich von einem einzelnen Tropfen aus der Kaffeemaschine gefüllt, auf sich aufmerksam machte – starrte. Etwas benommen nahm sie den intensiv duftenden Kaffee und begann, mit der Tasse in der Hand im Zimmer auf und ab zu wandern.
Sie blieb vor einem Poster des Instituts stehen. Mit diesem Poster hatte alles angefangen. Als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie noch nicht den Wunsch Forscherin zu werden. Modeling war immer ihre Leidenschaft gewesen, die Diäten einzuhalten und das Laufen, um in Form zu bleiben, hatten ihr immer sowohl eine psychische Ordnung und Struktur und gegeben als auch die Angespanntheit des Alltags zurückzulassen und sie selbst zu sein. Doch als sie zu einem Casting für ebendieses Poster ging, wurde der Wunsch etwas zu machen, das ihren Geist forderte, geweckt.
Das Poster war nur der Grundstein gewesen. Als bei ihrer Mutter dann ein Glioblastom in einem frühen Stadium festgestellt wurde und ihre Welt vom einen auf den anderen Tag ohne Vorwarnung plötzlich Kopf stand, musste sie zum ersten Mal erfahren, welch schreckliche Schicksale es gab. Die Ärzte machten ihnen keine Hoffnungen: Es bestünde eine geringe Chance, dem bösartigen Hirntumor mit einer Chemotherapie entgegen zu wirken, auch wenn der Fakt, dass er so frühzeitig schon diagnostiziert wurde, eine Heilung wahrscheinlicher machte, so war eine risikoreiche Operation doch die wahrscheinlich letzte Rettung und ihre Erfolgsquote minimal.
Dass die Ärzte ihnen keine allzu großen Hoffnungen machten, hatte sie erst im Studium verstanden. Es war eine simple Sicherheitsmaßnahme gewesen, da Trauernde gerne einen Schuldigen suchen und ein ungehaltenes Versprechen schrie praktisch Anklage.
Ihre Mutter hatte alles versucht: Chemotherapie, die Hochrisiko-Operation, doch zuletzt war das Institut ihre letzte Hoffnung gewesen. Es war Hospiz und Forschungslabor für die begnadetsten Medizinstudenten des Landes zugleich. Und letztendlich hatte es ihre Mutter bis zum bitteren Ende begleitet.
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte sich schon viel lange den traurigen Erinnerungen hingegeben – jetzt musste sie zurück zu ihren Aufgaben oder sie würde keinen Schlaf mehr bekommen.
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