Erst stirbt, wer vergessen wird
„Hallo, junge Dame, könnte ich vielleicht kurz mit dir über deinen Papa reden?“ „Lassen Sie sie in Ruhe, das ist weder der richtige Ort noch Zeitpunkt. Verschwinden Sie!“ Luisa setzte langsam und mit gesenktem Kopf einen Fuß nach dem anderen auf den Boden. Ihr Weg führte sie entlang unzähliger grauer, Trübsal erweckender Steine. Mit jedem kalten Regentropfen, der auf ihren Nacken fiel, erschauderte sie. Was dieser Mann wohl wollte? Ihre Mutter legte eine Hand auf ihre rechte Schulter. „Blutsauger“, murmelte sie mit genervter Stimme.
Da stand sie schließlich. Aufrecht und dennoch unsicher darüber, was sie glauben sollte. Nur sicher, dass ihr Herz schwer wurde beim Anblick dieser Zeremonie. Sie wollte sich kneifen, aufwachen und von ihrem Vater in die Schule gebracht werden. So wie immer. Immer wieder wischte sie sich eine Träne von der Wange. Nur ein einziges Mal schaute sie zu ihrer Mutter auf. In ihrem Gesicht war keine Trauer, sondern Fassungslosigkeit widergespiegelt. War sie die Einzige, die diesem Menschen nachtrauerte? Ihn und all die schönen Momente vermisste?
„Er hat es verdient zu sterben.“ Warum würde man so etwas sagen? Niemand hatte ihr gesagt, was eigentlich passiert war. Es war ein Aufschrei ihrer Mutter, der sie erwachen und in Panik verfallen ließ. „Er ist tot“, stammelte ihre Mutter. Das Telefon hielt sie in der einen Hand, mit der anderen verdeckte sie ihren Mund. „Er ist tot.“ Das war alles. Mehr würde sie nicht erfahren.
Auch viele langwierige Wochen später hatte ihr keiner reinen Tisch machen wollen. Eines Tages saß sie dann auf dem Friedhof. Diesem langweiligen und trostlosen Platz. Hingekauert vor dem Grab ihres Vaters und sie spürte erneut, wie ihre Augen immer wässriger wurden. Tag für Tag musste sie den gleichen Blick über sich ergehen lassen. Ein Blick, der ihr vermittelte, dass es nie wieder ein normales Leben geben würde. Dass das geheimnisvolle Vermächtnis ihres Vaters für immer die Art und Weise bestimmen würde, wie ihre Mitmenschen sie behandelten. Sie stieß einen lauten Seufzer aus. Er musste gehen. Er musste aus den Köpfen der Leute verschwinden.
„Hallo“. Ein sanfter, aber dennoch erschreckender Ton riss Luisa aus ihrer Trauerhaltung. Eine junge Frau mit blonden Locken und einem runden Engelsgesicht stand ihr bevor. „Wer sind Sie?“, entgegnete sie mit einem bewusst zweifelnden Blick. Die Unbekannte setzte zum Sprechen an, jedoch brachte sie keinen Ton hervor. Ihr war die Situation sichtlich unangenehm. Schließlich sprach sie mit verkrampfter Mimik: „Du bist Luisa, oder?“ Ein Nicken. „Ich habe bereits mit deiner Mutter gesprochen“. Die Zeit, welche diese Frau benötigte, um ihr zu erklären, worum es ging, nutzte Luisa, um sie von oben bis unten durchzumustern. Da fiel ihr die Wunde auf. Die Wunde am Hals. Luisa schenkte der Dame nur noch ihre halbe Aufmerksamkeit. So gefasst war sie von dieser Wunde. „Ich muss dir etwas über deinen Vater erzählen.“ Sie sahen sich an. Totenstille. „Ich…Ich hatte keine Wahl.“
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