ERZÄHL MIR VON DER WELT
Augen. Blicken.
Augen blicken nur für Augenblicke und doch, ich spüre sie, wie die Augen für länger als einen Moment irritiert auf mir ruhen.
Die Blicke übermitteln mir die Gedanken, die hinter ihren Augen gesponnen werden. Anders. Fremd. Nicht so wie wir. Passt nicht zu uns wir wollen dich hier nicht geh weg.
Ich irritiere sie, sie wollen mich lange anschauen, obwohl sich das so nicht gehört. Sie tun es trotzdem, denn bei mir ist es egal, was sich gehört. Finden nach langem Schauen immer noch nichts Normales, nicht normal genug, um den Blick abzuwenden. Also schauen sie weiter und ich muss mich ihren Blicken entziehen.
Mü ist genauso irritierend. Genauso anders, fremd, erhält die gleichen Blicke wie ich, die, die uns forthaben wollen. Ich will fort. Mü nicht.
Ich bleibe zu Hause. Will nicht mehr raus, habe genug von diesen Blicken, fühle mich vollständig zerschossen und durchlöchert, als würden sie nicht mit Augen, sondern mit Pistolen auf mich zielen.
Mü geht raus- diese Blicke zerschießen ihn nicht. Ich weiß nicht warum, wahrscheinlich liebt er die Welt da draußen zu sehr. Anstatt sich von den Blicken fertig machen zu lassen, blickt er zurück. Er schaut sich die Menschen an, beobachtet und studiert sie. Überlegt sich Geschichten und spinnt Verbindungen, wo eigentlich keine sind.
In der Nacht gehen wir raus. Die Nacht mag ich und sie mag mich, sie zerschießt mich nicht. Wir legen uns auf die Wiese, finden neue Sternenbilder.
Mü beginnt zu erzählen. Er sah wieder den barfüßigen Leser, der sich in der Morgensonne mitten in die Morgenhektik setzt und sein schwarzes Buch liest. Neben ihm seine Thermosflasche, aus der er Kaffee trinkt oder Tee. Eine Mutter, die ihrem Kind noch hinterherschaut, bevor es mit seinen Freunden hinter der Tür verschwindet, sie sich ihre Kopfhörer aufsetzt und weitergeht. Mü stellt sich gerne vor, dass sie dann Geschichten von anderen Ländern und Kulturen hört und davon träumt, ihrem Kind all das zu zeigen. Daraufhin die immer fröhliche Bäckerin, die viel weniger hat, als die meisten Menschen denken, dass man braucht, um glücklich zu sein. Sie ist es trotzdem. Nicht nur sie, sondern auch all ihre Kunden, nachdem sie bei ihr eingekauft haben. Was sie macht, macht sie gerne, sie liebt Menschen und den Geruch frisch gebackenen Brotes. Wenn man die Bäckerin anschaut, erzählt mir Mü immer, wirkt Glücklichsein so einfach.
Mü kam auch an Häusern vorbei, durch deren offene Fenster er Familien beim Geburtstagfeiern eines 10-Jährigen beobachten konnte. Als nächstes zwei Menschen, die sich vor einem Teller Pasta Asciutta von ihrem Tag erzählen, dann eine Familie, die zusammen fern schaut und am Regal hinter ihnen eine Karte mit der Aufschrift „Beste Mama der Welt“. Mü erzählt mir, er stellt sich vor wie die Karte zum Geburtstag verschenkt wurde oder zum Muttertag oder einfach so.
Ich schaue ihn an. Wenn nur alle so blicken könnten wie Mü, so wertschätzend, mit viel Menschenvertrauen und Fantasie. Augenblicke einfangen. Nicht bewerten.
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