Es geht mir gut
Meine Mutter sagt, mein Leben sei wie ein großer Eisbecher mit einer schönen, roten Kirsche drauf. Sie hat Recht und ich weiß das. Unsere Familie besitzt eine nette, große Wohnung im elften Stock eines Hauses, wir haben hier viel Platz für unsere zahlreichen Habseligkeiten, und es kann jederzeit ein Freund bleiben. Wofür meine Eltern jedoch nie Platz im Leben haben, ist Traurigkeit. Bei uns hat man glücklich zu sein, denn es geht uns gut. Man wolle doch nicht undankbar werden, sagt Mutter.
Ich weine immer nachts, wenn mich keiner hört. Einmal hat sie mich dabei erwischt. Sie hat sich zu mir ans Bett gesetzt, die Tränen mit dem Daumen fest und energisch weggewischt und eindringlich geflüstert, dass ich keinen Grund habe, traurig zu sein und nie einen haben werde. Danach ist sie einfach gegangen und ich habe an all die Menschen gedacht, die tagtäglich leiden müssen, hungernd, sterbend. Mir geht es gut. Ich bin so dumm. Meine Mutter sagt immer, wer undankbar sei, verdiene kein Stück von dem, was er besitze.
Manchmal sitze ich stundenlang aufrecht in meinem Bett, alles in mir schreit. Ich habe keinen Grund so zu sein, warum bin ich nicht glücklich? Geht es mir gut? Etwas ist wohl falsch mit mir. Wer keine Probleme habe, dürfe sich nicht beschweren, sagt sie. Also bleibe ich still. Ich will nicht schwach wirken oder dumm, als ob ich nicht merke, wie andere um ihr Glück kämpfen müssen.
Auch diese Nacht liege ich wieder wach und beobachte die Staubflusen, die im Licht des Mondes langsam von der Decke rieseln. Ich wünsche mir, ich wäre eines von ihnen. Leicht, anmutig, unbedeutend und doch so allgegenwärtig und selbstverständlich. Ohne die Fähigkeit zu denken oder zu fühlen. Eines von vielen. Mit jedem Atemzug fühle ich mich mehr und mehr wie ein riesiger Ballon, der kurz vorm Platzen steht. Dabei scheint es, als wäre er schon vor Jahren geplatzt und seitdem verdrecken seine Fetzen mein Herz. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, bewege ich mich auf das einzige Fenster in meinem Zimmer zu, von dem aus der Mond sein hämisches Grinsen auf mich richtet. Ich öffne es und setze mich auf das Fensterbrett, lasse meine Füße baumeln, schließe die Augen und höre zu, wie alle Autos auf der Straße unter mir die Stille der Nacht mit einem anderen Geräusch durchbrechen. Ich habe noch nie daran gedacht. Auch jetzt verschwende ich keinen einzigen Gedanken daran. Mein Gehirn hat schon früher an diesem Abend aufgehört, zu funktionieren. Meine Augen sind immer noch fest geschlossen, als ich das Fensterbrett loslasse und mich hinaus in die kühle Nachtluft fallen lasse. Es ist mir nie besser gegangen.
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