Es geht so:
Bereite deine Nähmaschine vor. Ja genau, die mit den Gebrauchsspuren. Spanne sorgfältig den Faden ein. Er ist schwarz und robust. So muss er sein, denn er hält alles zusammen. Du hast ihn doch von deiner Familie geschenkt bekommen, oder? Er wird dir noch sehr lange nützlich sein.
Nimm deinen ersten Stoff. Vielleicht ist er unregelmäßig geschnitten, mit ausgefransten Rändern, aber das ist perfekt so. Er sollte rau sein und ein verrücktes Muster haben. Wie die Haare deiner ersten Freundin aus deiner Volksschulzeit. Das Mädchen mit den unzähmbaren Locken und der selbstgenähten Hose mit Beerenmuster. Mit ihr hast du deine Kindheitstage verbracht, fast schon kitschig glücklich. Du kennst sie schon so lange, dass sie ein fester Bestandteil deines eigenen Charakters ist. Sie ist deine Basis.
Jetzt nimm den zweiten Stoff zur Hand, miss ihn ab. Mit diesem hier musst du vorsichtig sein, er ist fein und leicht, seidig. Sei zart mit ihm, er zerreißt so schnell. Aber er ist es wert, denn er ist unglaublich schön, oder? Empfindlich wie du selbst, als du begonnen hast zu lesen und zu zeichnen, als die Leute in deiner neuen Klasse dich Tag für Tag zerrissen haben. Du musst ihn über deine raue Basis legen, er sollte sie leicht überlappen. Ja genau, das sollte reichen.
Als nächstes nähst du darüber. Es muss nicht genau sein, es soll halten. Mach es im Zick-Zack-Muster, denn gerade Linien sind schwer für dich. Der Mittelweg ist nicht das Richtige in diesem Fall. Aber vernäh es gut, denn auch wenn du es nicht wie andere machst, musst du es gut machen.
Dann nimm den nächsten Stoff zur Hand, den neu gekauften, flauschigen. Er fühlt sich künstlich in deiner Hand an. Denkst du daran, wie du versucht hast anders zu sein? Du hast damals verzweifelt versucht dich anzupassen, “verrückt, aber normal” war dein Motto. Ja, das waren interessante Zeiten. Deine Klasse war nicht mehr neu für dich, aber für dich war alles neu.
Füge ihn an den empfindlichen Stoff, ja, so. Aber sei vorsichtig – der flauschige Stoff ist fast ebenso empfindlich wie der seidige, auch wenn er vielleicht noch so undurchdringlich wirkt.
Jetzt nimm deinen letzten Stoff zur Hand. Ja genau, den, den grauen. Du hast ihn doch gestern erst gekauft, oder? Er ist dunkel, manche Leute würden denken er sei schwarz. Aber er hat feine, schillernde Untertöne, so fein, man fühlt sie fast nicht. Du am allerwenigsten, stimmt’s? Er beschreibt deine Stimmung im Moment sehr gut. Dein Leben ist eintönig und frustriert dich, aber manchmal denkst du, es gibt da immer noch mehr. Etwas unter all dem verschwommenen Nebel. Nimm ihn und vernähe ihn fest mit deinen anderen Stoffen. Du denkst jetzt vielleicht, er wäre nicht passend und würde das Ganze verderben, aber du wirst es nicht bereuen, glaub mir.
Wenn du alles gut vernäht hast, so dass die Unterschiede zwischen den Stoffen kaum noch merklich sind, bist du fertig. Und dies ist dein Werk. Es ist nicht perfekt, nicht mal annäherungsweise. Aber es ist genug, glaub mir.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX