"Es ist nicht genug zu Fragen. "
"Du hast bereits genug gefragt", warf der Gelehrte ein.
Es zehrte an seiner Konzentration, den Fragen des Schülers nachzukommen. Er gab sich nie mit seinen Antworten zufrieden, wollte immer mehr wissen. Niemals hörte er auf, alles zu hinterfragen, was man ihm beizubringen versuchte. Hatte er denn nie genug? "Schrecklich dieses Kind. Hat wohl erst genug, wenn ich mir verzweifelt die Schläfen massieren muss, um die Kontrolle über mich selbst zu behalten", fluchte er in Gedanken und wunderte sich, wie er es nur für Erfüllung genug halten hatte können, Wissen zu vermitteln. Hätte er nur genug Mittel gehabt, sich einen anderen Beruf zu suchen. Er hat damals nicht genug nachgedacht. Doch letztendlich hatte er sich entschieden und diese Entscheidung getroffen.
Der Schüler unterbrach den Gedankenfluss seines Lehrers. "Aber es kann nicht genug sein. Es ist nicht genug zu Fragen, wissen Sie? " Er lächelte leicht und deutete auf die verstaubten Bücher im Regal, bevor er fortfuhr. "Man muss sich auch mit den Antworten auseinandersetzen. Denn eine Antwort ist nicht genug. Eine Lösung bietet nicht genug Möglichkeiten, die Richtige zu formulieren. Hat man jedoch viele Meinungen, kommt irgendwann unweigerlich genug Material zusammen, um etwas Neues daraus zu erschaffen. Es ist mehr als ein Gehirn nötig, um etwas zu bewirken. Ein einziger Stein ist noch lange kein Haus, doch hat man genügend kann man Wunderbares kreieren, und doch benötigt jeder Bau einen Grundstein. Es braucht jemanden, der sich Fragen stellt; jemanden der nach Antworten sucht; jemanden der sie findet; jemanden der sie beweist und letztlich jemanden, der sie glaubt. Es scheint alles sehr kompliziert, doch eigentlich ist es simpel. Man braucht nur genug Punkte, um eine Linie zu ziehen; nur genug Aspekte und Perspektiven, um daraus seine Schlüsse zu ziehen. "
Er unterbrach seine Rede, doch wendete den Blick nicht von seinem Lehrer ab. Es herrschte Stille, die gesprochenen Worte schwebten noch wie Nebel in der Luft und sickerten in die Gedanken des Gelehrten.
Diesem blieb die Sprache weg, doch das war dem Schüler Zeichen genug, dass seine Worte genug gewesen waren, um ihn zum Denken anzuregen. Vielleicht hatte ihn sein Fehler, den er geglaubt hatte begangen zu haben, gerade einen Schritt näher an sein Ziel - die Antwort - geführt. Der Mund des Schülers blieb zum ersten Mal geschlossen, lediglich seine Mundwinkel formten ein leichtes Lächeln. Keine Antwort zu geben, ist manchmal wohl Antwort genug.
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