Es ist okayvon Hannah Oppolzer
Ich bin in den Park gegangen, nur für einen kurzen Spaziergang, um die letzte Herbstsonne zu genießen, als ich den grauhaarigen Mann vor mir sehe und stehen bleibe. „Warte!“
Er dreht sich um und sein Blick ist neugierig, während er mich mustert. „Ja?“
Ich schweige. „Erkennst du mich denn nicht?“
Als er nichts erwidert, senke ich den Kopf. Ich hätte es wissen müssen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragt er.
„Nein. Nein, danke. Alles in Ordnung. Gehen… gehen Sie.“
Ich schicke ihn fort. Warum? Warum tust du das? Er ist dein Vater, verdammt noch mal!
Als er sich von mir abwendet, schließe ich die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Vielleicht sollte ich sie einfach rauslassen.
Vielleicht sollte ich ihm hinterherlaufen und ihm erklären, dass ich seine Tochter bin und er mich vergessen hat.
Es ist bereits Nachmittag, als ich in das Parkcafé eintrete und mir etwas zu trinken bestelle. Schweigend träufle ich Honig in meinen Schwarztee, zu viel, es wird zu viel, doch es ist mir egal. Unter mir raschelt etwas und neugierig, aber zugleich auch verwundert sehe ich mich nach allen Seiten um, bevor ich unter meinem Stuhl nachschaue.
Ein kleiner Junge liegt dort und sieht aus großen Augen zu mir hoch.
„Psst!“, zischt er. „Sie dürfen mich nicht finden!“
„Wer darf dich nicht finden?“
„Der König und die Königin! Sie werden böse auf mich sein.“
Ich rutsche zur Seite, um ihn besser ansehen zu können. „Was hast du denn getan?“
„Ich sollte eine Nachricht überbringen, aber ich…“
„Da bist du ja!“, unterbricht ihn eine laute Mädchenstimme. Ich richte mich rasch auf, als zwei Kinder, etwas älter, aber noch keine zehn, in das Cafe kommen.
„Seid ihr König und Königin?“, frage ich, während sich der Kleine hinter mir versteckt.
Das Mädchen bedacht mich mit einem argwöhnischen Blick. „Natürlich.“
„Und wieso muss er vor euch flüchten?“
„Er hat unsere Nachricht nicht überbracht!“, antwortet der Junge. Nein, der König. „Seinetwegen konnten unsere Männer nicht gewarnt werden und unser Feind hat all unsere Schätze geraubt.“
„Oh nein! Aber seid doch gnädig mit ihm. Es ist okay, etwas zu vergessen.“
„Es gibt aber Dinge, die man nicht vergessen sollte“, sagt das Mädchen und blickt mich abwartend an. „Du musst dich verbeugen.“
Also tue ich es.
Ich will das Café gerade verlassen, als ich eine Kinderstimme höre. „Warte!“ Der kleine Junge von vorhin ist wieder bei mir und nimmt mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit meine Hand.
„Ich habe gar nicht nach deinem Namen gefragt“, fällt mir ein.
„Ich bin Tizian, der Schreckliche“, sagt er in einem genervten Tonfall, als müsste ich es doch eigentlich wissen. „Meine Geschwister fürchten sich vor mir. Aber manchmal ärgern sie mich. Und dann bin ich traurig.“
„Ich bin auch manchmal traurig“, gestehe ich ihm.
„Wieso denn?“
„Es gibt Dinge im Leben, die man nicht wahrhaben will. Doch du kannst sie nicht ändern.“
Er legt seine Stirn in Falten, als denke er angestrengt nach. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Wenn ich zum Beispiel Tizian, der Schreckliche, bin und Mama dann sagt, dass ich ihr kleiner Tizian bin.“
„Aber nein.“ Ich lächle. „Du kannst alles sein, wenn du nur daran glaubst.“
„Da bist du ja! War aber heute ein langer Spaziergang.“ Es ist eine junge Frau, die aus einem Haus in einer Seitengasse kommt und mir sanft über die Schulter streichelt. Ich zucke unter der Berührung dieser Fremden zusammen, doch Tizian läuft zu ihr.
„Hallo, mein Junge! Wo sind denn deine Geschwister, Tizian?“
„König und Königin werden sofort kommen – ich muss schnell weg!“
Sie hält ihn am Ärmel fest. „Wo ward ihr denn?“
„Oma war im Café. Sie hat mir geholfen, mich zu verstecken“, antwortet er.
Die Frau sieht mich an. „Sehr schön.“
Oma? Panik regt sich in mir. Wer ist Oma?
„Na komm. Wir gehen hinein.“ Die Frau nimmt meinen Arm und ich lasse sie.
„Wo… ist mein Vater?“, frage ich.
„Dein Vater ist schon lange tot. Er wäre heute über hundert.“ Sie sagt es ruhig, aber da schwingt noch ein anderes Gefühl in ihren Worten mit.
Ich atme tief durch und versuche, nicht irritiert zu wirken. Doch ich kann es nicht vor ihr verbergen. Ich weiß nicht wer sie ist.
„Es ist okay, Mama“, flüstert die Frau und weint. Ich möchte nicht, dass sie weint, also versuche ich sie zu trösten und sie nimmt meine Hände.
„Es ist okay, etwas zu vergessen.“
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