Es ist wieder Donnerstag!
Unser ganzes Leben besteht aus Augenblicken, wir bestehen aus Augenblicken und sind selbst kaum mehr, als ein Augenblick.
Unser ganzes Leben arbeiten wir darauf hin, dass es einmal einen Augenblick gibt, den wir einfach nur genießen. Aber was, wenn wir doch nicht so viel Zeit haben? Ein Mensch, den ich liebe, hat mir einmal vom Blumentopf-Effekt erzählt. Es kann jeden Moment sein, dass ein Blumentopf von einem Balkon fällt, und wir einfach weg sind.
Ich bin fünf Jahre alt, stehe am Meer und weine, während ich auf die Wellen schaue. Ein kleiner Augenblick, der mich nach so vielen Jahren noch immer nicht loslässt.
Jeder Augenblick, in dem ich mich dafür entschieden habe, und ich bin heute immer noch da. Jeder Augenblick, in dem ich aufgeben wollte, und jemand da war, der mich gehalten hat.
„Sie sind sich ziemlich sicher, dass es Krebs ist.“ Ein Augenblick, und so viele Leben verändern sich. Nur ein Wimpernschlag, kaum wahrnehmbar, wenn man nicht ganz explizit darauf achtet.
Ein Moment, ein Augenblick, immer eine neue Möglichkeit, sich zu entscheiden. Lange habe ich das nicht so ganz begriffen. Wir entscheiden uns. Ab dem Moment, in dem wir ein Bewusstsein haben, ist jeder Augenblick eine bewusste Entscheidung. Wir alle leben unter ganz eigenen Umständen, die unseren Entscheidungen Grenzen setzen können. Aber innerhalb dieser haben wir nicht nur die Möglichkeit, uns zu entscheiden, sondern tun das ganz nebenbei in jedem Moment.
Ein paar Buchstaben und Zahlen auf einer Tafel, hingeschrieben, während ich nicht im Raum war. Es hat einen Moment gedauert, bevor ich begriffen habe, was da steht. Jede Kraft verlässt meinen Körper, mir wird schwindelig und ich setze mich hin, halte mich fest, suche Halt, aber kann nicht anders, als zu fallen. Die nächsten Augenblicke, halb in Trance. Schock, Wut, Trauer, Verzweiflung. Alles ändert sich so schnell und mein Kopf kommt nicht mit. Alle paar Minuten schaue ich nach, ich kann es nicht glauben, aber es ist so, die Wahrheit, nicht zu ändern. Bilder vom Abend davor in meinem Kopf. Ein Konzert, mit so vielen Menschen „Alle hassen Nazis“ schreien. Der nächste Abend. Mindestens ein Drittel hasst Nazis nicht. Ich habe Angst, ich habe Angst, dass sich alles wiederholt, dass es gerade wieder beginnt oder wir schon mittendrin sind. Habe Angst um mich selbst, habe Angst um alle meine Lieben. Ich habe so viel Angst, dass es mir manchmal unmöglich scheint, weiterzumachen, weiterzukämpfen, nicht aufzugeben.
Ich will nicht mehr in jedem Moment entscheiden müssen, was für ein Mensch ich sein will, ich will nicht mehr kämpfen.
Aber dann denke ich an einen Augenblick, der bisher nur in meinem Kopf existiert.
Ich sehe mich, in vierzig Jahren mit meinen eigenen Kindern. „Und was hast du damals getan?“ Ich will darauf eine Antwort haben, für die ich mich nicht schämen muss.
Also entscheide ich mich wieder. Für mich, für uns, und für jedem Augenblick, der dem jetzigen folgen wird.
Es ist wieder Donnerstag. Und wir sind immer noch viele.
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