Es war Zeit
Zeit. Zeit war nie etwas mit dem ich richtig umgehen konnte. Schon mein ganzes Leben lang waren Minuten, Stunden, Tage ungreifbar. Alles schien so schnell zu vergehen als wäre es nie passiert oder schon einmal geschehen. Drei Mal, vier Mal, fünf Mal. Die Wäsche hatte ich bestimmt schon acht Mal nach Regenbogenfarben sortiert. Immer das selbe Hemd zuerst und das gleiche ausgewaschene paar Socken zum Schluss. Doch dieser Tag war anders. Er unterschied sich durch so einiges von meinem üblichen Alltag, da eine ausgerissene Buchseite auf meiner Kommode lag. Die Worte „Und ein Hund lief ihm zu. Weiß und wohlgenährt“ waren mit rotem Textmarker unterstrichen. Nach einer schlaflosen Nacht begann der nächste Tag und die übliche Routine. Immer dasselbe Hemd zuerst und das gleiche ausgewaschene Paar Socken zum Schluss. Doch dieser Tag war anders. Schon wieder. Eine Minute vor Mittag klopfte es an meiner Haustür. Ein Pudel mit Fell, das aussah wie ein riesiger Berg Seife, spazierte munter in das Esszimmer hinein und machte es sich auf meiner frisch nach Regenbogenfarben sortierter Wäsche gemütlich. Mit schnellen Schritten ging ich erneut zu meiner Kommode, auf deren Oberfläche sich wieder ein Zettel mit unterstrichenen Passagen präsentierte. „Um 12 Uhr spielte man ihm einen Streich, der in Zerstörung endete.“ Und so geschah es. Pünktlich zur Mittagszeit wurde ein roter Ziegelstein mit voller Wucht durch das Fenster im Erdgeschoss geworfen, der meinen Pudel, den ich Mors nannte, nur knapp verfehlte. Diese ungewöhnlichen Ereignisse begannen nun Alltag zu werden. Tagtäglich erhielt ich eine neue Prophezeiung und eine nach der anderen wurde wahr. Ohne Ausnahmen. Bis, etwa drei Wochen nach dem ersten Eintrag, vielleicht waren es auch 6 oder 8 gewesen, eine weitere Nachricht eintraf. Diese unterschied sich von dem bekanntem Muster, indem sie ein simples rotes „Schreibtischschublade“ enthielt. Verwirrt aber dennoch neugierig öffnete ich diese. Ein Buch, das den Titel „Es war Zeit“ in großen roten Buchstaben präsentierte, offenbarte sich mir bevor ich begann darin zu lesen. Seite für Seite, Zeile für Zeile. Der Großteil des Werkes war ausgerissen. Es war eine Biografie. Mein Leben. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Ein unwohles Gefühl breitete sich in mir au, s während ich bis zum Ende der Lektüre blätterte. „Zusammengekauert saß er am Boden. Verwirrt und dennoch neugierig durchkämmte er das Buch, Seite für Seite, Zeile für Zeile. Ihm wurde schwarz vor den Augen und-“ „Ich sterbe?“ hauchte ich mit verzweifelter Stimme „Tun wir das nicht alle irgendwann?“ erschien es in roten Buchstaben vor mir, auf dem letzten Satz der letzten Zeile. Mit verschwommener Sicht blickte ich noch ein letztes mal zu dem Buch in meiner Hand, bevor alles schummrig wurde. Das war es also. Das Ende. Ob ich es als fiktive Figur selbst spüren konnte, ließ sich nicht sagen. Aber Fakt war, dass mein Job als Protagonist im eigenen Buch nun erledigt war. Aus und vorbei. Es war Zeit. Zeit zu gehen.
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