Estan und der Wald
Es wird einmal ein Mensch sein – mit Namen Estan. Estan wird ein ganz normaler Mensch sein. Sie wird jung sein und später alt werden. Doch diese Geschichte widerfährt ihm, als Estan genau 19 Jahre und drei Monde alt ist. Also das Jahr bevor sie sich erwachsen fühlen wird. Er lebt zu dieser Zeit mit seiner Familie in einem hohen, weißen Haus inmitten eines großen, dunklen Waldes. Das Gebäude ist Licht durchflutet, die Eltern immer glücklich.
Sie bewohnt jedoch das dunkelste Zimmer im Erdgeschoss. Es hat dunkelblaue Wände und dunkle Holzmöbel. Es gibt ein Fenster mit zwei samtenen Vorhängen durch deren Spalt das Zimmer beleuchtet wird. Das Bett ist ihr Lieblingsplatz, sein Nest. Große Polster und ein schwerer Baldachin bilden einen unüberwindbaren Wall.
Dort wird Estan dann liegen, eingerollt in ihrer Welt. Zufrieden und sicher unberührt von allem Ungewissen und Gefährlichen.
Doch eines Tages wird sie etwas stören. Es kratzt an seiner Ruhe. Sie wird versuchen es zu ignorieren. Es hört nicht auf. Es ist ein Gefühl, ein Wissen: etwas passiert.
Er springt auf und läuft zum Fenster, reißt die Vorhänge auf. Da wird er es sehen: Yubaba die blinde Katze verschwindet gerade zwischen den Bäumen. Estan steht kurz wie festgefroren da. Yubaba ist eine Hauskatze. Er würde sie holen müssen. Er schnappt sich den schwarzen, großen Wollschal, öffnet das Fenster und steigt über die Fensterbank und aus dem Schatten.
Estan wird von grünem Licht umfangen, sie wickelt den schal noch etwas fester und läuft los. Doch er wird die Katze nicht einholen.
Immer wieder sieht sie Schatten, doch nie ist es die Katze. Er läuft immer weiter in den Wald und bei jedem brechenden Ast oder raschelndem Blätterhaufen erschrickt er. Nach einiger Zeit wird das Kind dann langsamer. Estan spürt den weichen Boden und riecht die Bäume. Er sieht ein kleines Wesen mit glitzernden Flügeln und folgt ihm ein paar Schritte. Als es in einem Baum verschwindet, hört sie einen Vogel zwitschern und könnte schwören, eine Melodie zu erkennen. So wird Estan verzaubert durch den Wald wandern bis sie auf einer Lichtung landet. Dort wird sie sich auf den Rücken legen und den Himmel beobachten.
Yubaba taucht zwischen den angrenzenden Bäumen auf. Sie schleicht durch das Gras und kuschelt sich zu Estan. Wenn der Tag dann zu Neige gehen wird, folgt Estan der blinden Katze nach Hause. Der Schal jedoch wird zurückbleiben und beäugt von den Nachtwesen auf Estan warten, der schon am nächsten Tag zurückkehren wird.
Und so endet die Geschichte, aber nicht Estans, denn dies wird erst sein erster Schritt in den großen Wald sein. Auf sie wartetet noch ein ganzes Leben, und wenn er noch nicht geboren wurde, dann vielleicht erst in hundert Jahren.
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