Evolutionsgeschichte, gegenwärtig
Oh, welches Gewicht! Welche Schwere!
Welche Langsamkeit in seinen Bewegungen, welche Zittrigkeit, welche Angst.
Er trägt – seit Jahren und Jahren - seinen Kopf auf Höhe der Brust; er hat seinen Kopf abgesenkt, den Hals gebogen und einen Halswirbel, die auf dem Wirbel liegende Haut, die aus der Haut herausstehenden Härchen zum höchsten Punkt seines Körpers gemacht.
Was für ein Hals das geworden ist!
*
Beim Abendessen mit dem Professor, meinte dieser, er könne ihn als Person und in Berücksichtigung des gewaltigen Halses, nur mit zwei Tieren überhaupt vergleichen; er bitte das zu entschuldigen, für einen Biologen sei dies beschämend, aber eine Wahrheit.
Nun, eine Schildkröte, meinte der Professor, natürlich, er habe etwas von einer Schildkröte.
„Ich gebe mich der Trivialität hin, bemerke ich.“
Aber der exponierte, nach vorne geschobene tiefe Kopf und die gesamte allgemeine Langsamkeit im Auftreten, die nicht über die innere Geladenheit hinwegtäuschen dürfe, ließen nichts anderes zu.
“Wie könnte einem nicht der Vergleich zu einem solchen Tier kommen? Unvermeidbar, natürlich, menschlich.“
„Geladenheit ist eine ultimative Spannung! !“
*
Dieser sich umherschiebende Kopf!
Etwas verknöchert und versteinert – in Stein gemeißelt! -, wie eine Entscheidung wirkt sein Hals, der über dem Kopf steht.
Seine Wirbelsäule im Brustbereich hat sich ebenfalls verschoben.
Eine unübersehbare Verfahrenheit!
*
Der Professor bewies sich als schmatzender Esser: ein Schnauzer, vorgelehnt, immerzu redend, breitbeinig sitzend. Er schob sich Hände voll Essen in den Mund, das wirkte nicht unbedingt abstoßend, das war als Teil eines Ganzen zu sehen, Teil der Verschrobenheit, die man unter Naturwissenschaftlern findet, den Biologen, Chemikern.
„Na also“, sagte er, „das zweite Tier: eine Giraffe. Eine Giraffe hat sieben Halswirbel - wie der Mensch! Aber was sie mit diesen sieben Wirbeln anstellt!“
Was er mit seinen sieben Wirbeln anstelle!
„Das sind große Evolutionsgeschichten.“
Man dürfe nicht vergessen, bei aller Komik in Physik und Chemie, dass auch der Biologe ein humoriger Mensch sei und die Evolution eine Humorigkeit in sich habe, die schwer, schwer übertroffen werden könne. „Bei aller Ernsthaftigkeit natürlich und aller Brutalität. Aber eine Spur Ironie erkenne ich.“
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Der Kopf horchte, wie er es immer tat.
Der Kopf drehte sich ein, schob ein Ohr in Richtung des Redners und behielt sein zweites auf der Körperseite.
Dann kamen die zwei Ohren zum Einsatz, das wichtigere, das unwichtigere…
*
Der Professor: „Man hat sich also ausgedacht, dass die Giraffe einen so langen Hals hat, weil sie damit den hohen Akazien besser zusetzen kann. Ist das nicht lustig?“
Der Professor bekam sein Lachen irgendwann in den Griff, ein ernsteres Gesicht:
„Warum hat sich dein Hals gekrümmt?“
*
Der Kopf berührte die Brust fast, so hörte er sein Herz schlagen.
Er hing an seinem Herzen und beobachtete, lauschte.
Oh, wie sehr er fürchtete, dass der gerade gehörte Schlag der letzte war!
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