Ewiges Treppensteigen/lebenslang angekommen
‚Hat mein Bruder nicht schon genug Spielzeug? ‘, fragte sich das Mädchen, als sie im Dunkeln erneut auf einen Baustein trat. Leise fluchend rieb sie sich den Fuß.
Gelächter füllte die Luft, als sich die Jungen in abgenutzter Kleidung den improvisierten Ball aus Lumpen zuspielten. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ihr selbstgebauter Ball stabil genug war. Aber jetzt hatten sie ihr eigenes Spielzeug, das nur ihnen gehörte.
‚Habe ich nicht schon viel zu viele Klamotten? ‘, sprach sie zu niemand bestimmten, als sie seufzend ihren Schrank öffnete, der vor Kleidung überquoll.
Entsetzt sah er auf den tiefen Riss in seinem abgenutzten T-Shirt mit Menschen darauf, die in einem fernen Land lebten. Ihm gehörten nur zwei T-Shirts, und nun war auch das zweite kaputt gegangen. Vielleicht könnte er es noch irgendwie reparieren, bevor seine Mutter davon erfuhr.
‚Wir haben doch genug Brot zu Hause, um noch die beiden Nachbarhäuser damit zu versorgen. ‘, bemerkte sie kopfschüttelnd, als sie sich ihr Frühstück für die Schule packen wollte. Der Brotkasten ging nicht mal mehr richtig zu, so voll war er.
Verwirrt suchte er nach dem Laib Brot, der eigentlich in der Lehmhütte seiner Familie aufzufinden sein sollte. Nachdem er alle möglichen Verstecke abgesucht hatte, beschloss er, statt zu essen lieber ein Nickerchen zu machen und auf seine Eltern zu warten.
‚Haben wir nicht schon genug Hausaufgaben? ‘ fragte sie ihre Banknachbarin stöhnend. Zusätzliche Übung in einem Gebiet, in dem sie keine mehr brauchte, würde sie nur unnötig Zeit kosten, die sie in lernen investieren könnte.
Wenn er ehrlich war, beneidete er die Kinder, die in die Schule gehen konnten. Auch wenn er noch klein war, wusste er, dass er eines Tages, genau wie seine Eltern, Ziegen, Schafe und Kühe hüten würde, ganz ohne die Fähigkeit, Symbole entziffern zu können.
‚Nach dem Abi wird alles besser‘, sagte sie zu ihrem übermüdeten Spiegelbild, akzentuiert durch die violetten Augenringe und die vom häufigen Haareraufen strähnigen Haare.
Endlich alt genug für die Geheimnisse der Tierhaltung von seinem Vater zu sein - großartig. Endlich war er erwachsen und wurde eingewiesen, wie er das Erbe seiner Eltern weiterführen würde.
‚Das sind immer noch viel zu viele Möglichkeiten‘, rief sie verzweifelt ihrer Mutter zu, als sie die Liste mit der engsten Auswahl ihrer möglichen Studienfächer zum dritten Mal durchlas.
Der größte Tag in seinem Leben war gekommen, als er endlich verheiratet wurde. Seine Braut war hübsch und er hoffte, dass sie beide glücklich alt werden konnten.
‚Verwirrend‘, dachte sie am Abend ihres Abiballes, ‚ich habe so viel, so viele Möglichkeiten, die Welt steht mir offen. Obwohl ich mehr als genug habe und eigentlich glücklich bin… Genug ist halt doch irgendwie genug. ‘
Lächelnd winkte er seiner ältesten Tochter hinterher, als sie zum ersten Mal zur Schule ging. Auch wenn sein Leben schon von Geburt an den alten Traditionen gefolgt war, würde das seiner Tochter es nicht tun.
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