Fallen
Der Spielplatz ist verlassen.
Ich bin die Einzige hier.
Niemand kommt mitten in der Nacht auf einen Spielplatz.
Allein.
Mit fünfzehn.
Meine Haare berühren den Boden.
Überall ist Dreck.
Von den Kindern. Von den Kindern, die hier herum gerannt sind.
Am Tag.
Als die Sonne schien.
Als sie Spaß hatten.
Ich habe keinen Spaß.
Ich hänge kopfüber auf der Stange am Spielplatz.
Wie ich es früher getan habe.
Als ich klein war.
Sorglos.
Das Blut läuft mir in den Kopf.
Lange werde ich nicht mehr hängen können.
Aber ich will so bleiben.
Ich werde hängen, bis ich falle.
Auch wenn es weh tun wird.
Schmerzen sind vergänglich.
Körperliche.
Andere nicht.
Manche werde ich ewig ertragen müssen.
Meine Glieder sind schwer.
Werden immer schwerer.
Werden nach unten gezogen.
Zum Boden.
Dort will ich nicht sein.
Ich will nicht loslassen.
Will die Stange nicht verlieren.
Sie gibt mir Halt. Ein bisschen.
Wo ich doch sonst nichts habe, woran ich mich festhalten kann.
Meine einzige Stütze ist eine Stange auf einem Spielplatz.
Alles andere hab‘ ich verloren.
Alles was mir wichtig war.
Verschwunden ist es.
Und es wird nicht mehr wiederkommen.
Nie wird etwas so sein, wie ich es bis jetzt kannte.
Auch falls es zurückkommt, wird es nicht dasselbe sein.
Bestimmt nicht.
Meine Haare liegen am Boden.
Ausgebreitet wie ein Fächer.
Ich bin weiter abgerutscht.
Bald falle ich.
Entscheidungen kann man nicht rückgängig machen.
Ich hab alles ruiniert.
Ich bin schuld.
Hätte ich nichts getan, wäre alles in Ordnung.
Aber ich habe es getan.
Weil ich nur an mich gedacht habe.
Und damit habe ich auch mein eigenes Leben ruiniert.
Ich habe mir alles genommen.
Fast wäre ich von der Stange gerutscht.
Aber ich habe mich festgehalten und mich wieder hochgezogen.
Ich habe den Aufprall am Boden verhindert.
Aber er wird kommen.
Beim nächsten Mal kann ich ihn nicht verhindern.
Ich werde den Halt verlieren.
Aber ich werde nicht jemanden verlieren.
Nicht noch einmal.
Weil es niemanden gibt, den ich verlieren könnte.
Nicht mehr.
Die Einzige, dir mir etwas bedeutet hat, ist weg.
Für immer.
Sie ist nicht tot.
Sie ist einfach nicht mehr da.
Nicht mehr so wie früher.
Sie war meine ganze Familie.
Die einzige Familie, die ich jemals hatte.
Jetzt ist sie weg.
Weil ich sie nicht beschützt habe.
Ich habe zugelassen, dass ihr wehgetan wurde.
Ich habe nichts unternommen.
Nicht sofort.
Aber hätte ich von Anfang an nichts getan, wäre es nie passiert.
Ohne mich wäre sie wie früher.
Glücklich.
Aber ich habe sie in diese Lage gebracht.
Auch wenn andere sagen, ich hätte sie gerettet.
Gerettet.
Sie ist am Leben.
Aber man kann es nicht „Leben“ nennen.
Sie lebt.
Aber sie ist nicht mehr sie selbst.
Anders wäre es besser gewesen.
Traurig.
Aber besser.
Für sie.
Vielleicht auch für mich.
Sie wird es nie vergessen.
Mir nie verzeihen.
Falls sie sich jemals erinnert.
Immer weiter rutsche ich von der Stange.
Und falle.
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