Fangen spielen
Mirko ging über die Straße, ohne zu schauen. Er tat das oft, aber vielleicht hätte er heute schauen sollen. Als er sich nämlich auf dem Heimweg seiner allabendlichen Kneipentour befand, hätte ihm auffallen sollen, dass etwas anders war. Er torkelte in die Prinzenstraße, an der Eisdiele vorbei, in der er als Kind immer Stracciatella-Eis gegessen hatte. Oder wie er es damals nannte, “schwarzer Teller”-Eis. Er grinste. Er übergab sich.
Als er sich bückte, um noch die letzten Brocken der Bosner herauszuschütteln, die von seinen beiden besten Freunden Mister Daniels und Mister Walker offensichtlich nicht in seiner Magengrube geduldet worden war sah er etwas hinter sich. Es war ein Kind, nicht älter als 10. Und es tapste langsam den Gehsteig hinunter. “Ein Kind? Um ein Uhr? ” lallte er leicht verwirrt vor sich hin. Er drehte sich um, um einen besseren Blick auf den Jungen zu erhaschen, der ihm nun schon etwas nähergekommen war. “Mach das du wegkommst”, keifte er das Kind an. Es reagierte nicht. Mirko wurde die Situation langsam unheimlich. Der Junge bewegte sich weiterhin mit kleinen Schritten auf ihn zu.
Mirko dachte an seine Kindheit, ja, er war zwar auch lange draußen gewesen aber so eine Respektlosigkeit hätte er niemals gezeigt. Er überlegte, das Kind zu schlagen, ihm selbst habe es ja auch nicht geschadet. Doch irgendwie traute er dem ganzen nicht. Irgendwas in ihm schrie, “lauf weg, schnell! ”. Mirko ergriff die Flucht. Über die Bergallee hinauf und in die Scheuerstraße. Komplett außer Atem und mit blutigen Knien, er fiel beim Laufen nämlich mehrmals zu Boden, warf er sich gegen eine Hauswand und sackte in einer halbwegs angenehmen Sitzposition in sich zusammen. Er ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Es war kalt und dunkel. Weit und breit war niemand zu sehen. Obwohl. . . da war ja etwas- ja- da hinten, neben der Laterne. . . Moment, war das. . .
Mirko schrie. Er sah die kleine Silhouette auf ihn zukommen. Panisch blickte er umher. “Das- das muss nur ein Traum sein- ich- ich muss träumen! ”, entwich ihm in einem ängstlicheren Tonfall als ihm liebgewesen wäre. Aber er war wach. Und jetzt war er hellwach, den die kleine Gestalt sprintete plötzlich auf ihn zu. Keuchend stieß Mirko sich von der Hauswand ab und rannte panisch los. Er dachte zurück. So war er nicht mehr gerannt seit Jakob Schellenbacher drohte, ihn am Schulranzen aufzuhängen, weil er ihm sein Taschengeld nicht geben wollte.
Er traute sich erst nach etwa einem Kilometer wieder, über die Schulter zu blicken. Er erstarrte und stolperte zu Boden. Das Kind stand direkt hinter ihm. Mirko sah auf. Sogleich wurde ihm einiges klar. Es war eine Art Fangenspiel. Nur war die Floskel in dem Fall nicht“du bist’s! ”, sondern: “ich bin’s! ” Er stand auf. Er lächelte. Er lief auf den kleinen Mirko zu und schloss ihn in die Arme.
Am nächsten Abend waren sämtliche Kneipen der Stadt um einen Besucher ärmer.
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