Fenster ohne Aussicht
„Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. (…)
Er hatte die Augen zu. Mit einem Mal wurde es noch dunkler. Er merkte, dass jemand gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! dachte er.“ (Impuls aus: Wolfgang Borchert, Nachts schlafen die Ratten doch)
Langsam öffnete er die Augen und blickte durch den Schleier von guten Gedanken, den er sich gerade geschaffen hatte, in die haselnussbraunen Augen des Mannes, der ihm über die kurze Zeit so vertraut geworden war. Mit seinem dunkelbraunen Haar, das ihm in die Stirn fiel, den Anzügen, die immer etwas zu groß waren, den schwieligen Händen und seinem stets kühnen Blick. Doch als er heute neben der Kühnheit auch noch Nervosität in den Augen des Polizisten sehen konnte, löste sich der Schleier auf und die Last auf seinen Schultern holte ihn zurück in die Realität und in die missliche Lage, in der er sich befand.
Während er das orange Farbenspiel der letzten Sonnenstrahlen, die an der grauen Backsteinwand tanzten, beobachtete, richtete er sich Wirbel für Wirbel in dem dunkelgrünen, bereits abgegriffenen Ledersessel auf und fragte mit ruhiger, jedoch kratziger Stimme: „Sind sie bereits hier?“
„Sie befinden sich zurzeit in einem Gebäude nicht weit von hier.“ Es überraschte ihn nicht, die Ruhe aus der Stimme seines Vertrauten herauszuhören, denn beide waren sich bewusst, dass Eile und Nervosität nur zu Unvorsichtigkeit führen würde. Heute war es bereits das dritte Mal, dass die Männer, welche ihm und seiner Familie schaden wollen, sie aufgespürt hatten und ihnen dicht auf den Fersen waren.
Es war vor drei Monaten geschehen, dass sich sein und das Leben seiner Lieben für immer ändern sollte. Als er damals völlig ermüdet von der Arbeit nach Hause gegangen war, wurde er Zeuge, wie ein Mann mit einer Pistole das Leben eines anderen auf kaltblütige Weise beendet hatte, um an geheime Informationen zu kommen. Durch seine Aussage gelang es der Polizei, den Mörder ausfindig zu machen und in Gewahrsam zu nehmen.
Er wusste, dass, würden die Vertrauten des Täters ihn, und seine Familie je ausfindig machen, ihnen etwas viel Schlimmeres drohte, als dem Mann, der kurz vor seinem Prozess stand und dem ein lebenslanger Freiheitsentzug drohte.
Gemächlich erhob er sich aus dem grünen Sessel und schlenderte hinüber zu dem Fenster, aus welchem er durch das milchige Glas unzählige Blicke auf die verzerrten Menschen unter ihm geworfen hatte. Jedes Mal wünschte er, genauso sorgenfrei und unbeschwert durch die Straßen ziehen zu können wie sie.
Er legte seine vor Angst schweißnassen und zitternden Hände auf die Fensterbank und klammerte sich an dem morschen und absplitterndem Holz fest, während er den Kopf senkte und seine Nackenmuskulatur entspannte.
„Können wir…? Können wir noch fliehen?“
Während er auf seine Hände blickte, wusste er nicht, ob er die Frage laut ausgesprochen hatte oder es nur ein stiller Hilferuf in seinem Kopf war.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX