Fliese 2106
Ich liege schweißgebadet in meinem Bett. Immer wieder wache ich in der Nacht auf, früher war das nie so. Vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt schon groß bin und meine Eltern nicht mehr neben mir schlafen. Wie spät es genau ist, weiß ich nicht. Ich versuche heute wieder die Fliesen auf meinem Boden zu zählen. Ich bin bereits bei 2106. Vor kurzem konnte ich noch nicht so weit zählen, ich bin stolz. Es wird draußen langsam dunkler und ich beobachte den Sonnenuntergang. Früher habe ich die immer mit meinem Papa angeschaut, doch wenn er wegen der Arbeit weg ist, muss ich sie mir allein anschauen. Sobald der Sonnenuntergang zu Ende ist, schließe ich meine Augen. Wenn ich nicht einschlafen kann, versuche ich mir zu allen Stimmen, die ich höre, Personen vorzustellen. Ich höre eine sehr hohe Stimme, sie heißt bestimmt Lilly. In meinem Kopf sieht sie aus wie meine beste Freundin. Die Stimme, die mit ihr redet, hört sich sehr an wie Papa, doch ich denke nicht, dass er es ist. Ich kuschle mich an meinen Teddy, er hilft mir immer gut zu schlafen. Meine Träume sind oft böse, doch mit Teddy weiß ich, dass alles gut wird. Bei jeder Operation ist Teddy dabei und wenn ich wieder aufwache, kuschle ich sofort mit ihm. Morgen schaut er mir wieder zu. Ganz in der Früh muss ich morgen aufstehen, das hasse ich. Immer wenn ich so früh aufstehe, geht es mir danach so schlecht. Meist bin ich müde und alles schmerzt. Ich verstehe nicht warum, doch Mama sagt mir, dass das bald vorbei ist. Dreimal noch und dann habe ich es geschafft. Ich freue mich darauf so sehr, dann kann ich endlich wieder nachhause. Dort warten dann meine Familie, mein Hund, mein Bett und mein Alltag auf mich. Dann darf ich endlich wieder in die Schule gehen und meine Freunde treffen. Es ist oft so langweilig hier ohne sie. Alles hier ist so ernst und nicht aufregend. Die Wände sind weiß und ohne Sterne, die in der Nacht leuchten, um mir beim Einschlafen zu helfen. Es gibt keine bunte Bettwäsche mit Pferden, sie ist langweilig beige und kratzt auf meiner Haut. Ich kenne die Menschen hier schon so lange und trotzdem weiß ich ihren Namen nicht, sie sind fremd. Ich darf nicht tanzen, kann mich oft gar nicht bewegen, weil mir alles so weh tut. Obwohl ich so lange schon hier bin, fühlt es sich nicht an wie zuhause. Ich werde müde, meine Augen fallen zu.
Schweißgebadet wache ich auf. Mein Körper ist nass und steif. Meine Augen sind weitgeöffnet. Nichts fühlt sich gerade echt an. Ich blicke meinen Körper herunter, alles war wie gewohnt. Es ist alles bloß ein Albtraum gewesen. Ich versuche mein aufgebrachtes Ich zu beruhigen. Mit geschlossenen Augen führe ich Atemübungen aus. Mein Atem ist schwer, sowie meine Augenlider. Plötzlich reißt mich ein Klopfen aus dem Schlaf. Zwei Personen, dessen Namen ich nicht kenne ziehen mein Bett in einen Raum. „Operationssaal 3“. Realisation. Es war kein Albtraum, es war mein Leben. Mein Leben war ein Albtraum und hatte kein Ende.
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