Flüstern der Augenblicke
Es war still. Eine Stille, die sich anfühlte, als würde sie jeden Raum ausfüllen, bevor sie von einem flüchtigen Moment zerrissen wurde. In dieser Stille, irgendwo zwischen Raum und Zeit, fanden sich zwei Augenblicke wieder. Sie hatten lange geschwiegen, doch nun waren sie bereit, miteinander zu sprechen.
Der erste Augenblick ließ sich Zeit, bevor er sprach. „Ich bin der Augenblick, in dem sie ihm das erste Mal in die Augen sah“, begann er mit leiser, fast schon verlorener Stimme. „Ich trug die Wärme ihres Lächelns, die leise Aufregung, die unbestimmte Hoffnung, dass sich ihre Welten berühren würden. Ihre Blicke trafen sich, und in dieser Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Alles, was sie sich wünschte, lag einzig und allein in seinem Blick.“
„Und ich“, antwortete der andere Augenblick, „ich bin der Moment, in dem sie ihn das letzte Mal sah. Ihre Augen trafen sich, aber nur kurz, bevor sie sich abwandte. Es gab keine Worte, keine Gesten, nur die endlose Stille zwischen ihnen. Ihr letzter Blick, so voll von dem, was nie sein konnte.“ Seine Stimme war schwer, wie ein Schatten, der über die Wärme des ersten Augenblicks fiel.
Eine lange Pause entstand zwischen ihnen. Der erste Augenblick schien sich zu winden, als könnte er das Gewicht der Worte des anderen kaum ertragen. „Aber. . .“, flüsterte er, „war es nicht trotzdem schön? War es nicht wertvoll, auch wenn es nicht so endete, wie sie es sich erhofft hatte?“
Der zweite Augenblick schwieg einen Moment, bevor er mit rauer Stimme antwortete. „Schön? Vielleicht. Aber Schönheit ist flüchtig. Sie vergeht, und was bleibt, ist nur die Leere, die sie hinterlässt. Ihr Lächeln, ihre Hoffnung – alles verblasste. Und als sie am Ende allein dastand, war es dieser Augenblick, den sie fürchtete. Nicht deiner.“
Die Stille kehrte zurück, dichter, bedrückender als zuvor. Als seien die Erinnerungen zu schwer, um sie weiter zu tragen. Doch der erste Augenblick sprach weiter, fast schon verzweifelt: „Erinnerst du dich nicht an die Lichter in ihren Augen, als sie unter den Sternen standen? Jene Momente, in denen sie für einen Augenblick glaubten, dass sie der Zeit entkommen könnten?“
Traurig senkte der zweite Augenblick seinen Kopf. „Es spielt keine Rolle mehr. Ich bin der Augenblick, in dem sie begreift, dass all diese Erinnerungen zerbrechlich waren. Ich bin das Ende, und alles, was bleibt, ist die Leere. Sie erinnern sich nicht an dich, nicht an das Lachen, nicht an die Sterne. Sie erinnern sich nur an mich, an das, was verloren ging, an das, was nie hätte sein sollen. Die Menschen vergessen die Augenblicke, die lebendig waren, denn sie tragen nur noch den Schmerz in sich. Wir sind nur Schatten dessen, was hätte sein können, Augenblicke, die in der Dunkelheit verschwanden. Sie werden uns vergessen, und eines Tages werden wir nur noch ein flüchtiger Gedanke sein, der nie wirklich zählte.“
Der erste schwieg, denn er wusste, der andere hatte Recht. Und so vergingen die Augenblicke, so, wie alles vergeht.
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