Flügel
Einfach nie genug. Ich war einfach noch nie gut genug für irgendjemanden. Nicht für meine Mutter, nicht für meinen Vater. Nicht einmal für meine eigenen Freunde. Und genau deshalb war ich auch nicht genug für sie. Würde ich nie sein.
Ich wand meinen Blick von ihrem schlafenden Gesicht ab, versuchte die Schatten, die wegen den Straßenlaternen über ihre feinen Gesichtszüge tanzten, einfach einmal auszublenden. Würde sie nur ihre Augen öffnen, dann wäre mein Kopf plötzlich leer, wie die Sahara. Vermutlich wäre mir genauso warm, wenn mein Herz wie ein Specht gegen meine Brust pochte. Das waren die Momente, in denen ich vergaß, wie beschissen meine Lage war. Ein Blick von ihr ließ mich meine Trauer um sie vergessen. Aber dieses Mal würde ich es durchziehen. Ich würde gehen und ein Leben aufbauen, ohne abhängig zu sein. Irgendwo, mit jemandem, für den ich gut genug war. Vielleicht würde ich auswandern, wenn ich nur von diesem Bett aufstünde und meinen Koffer nähme. Und tatsächlich. Ich setzte mich auf und stand auf. Ohne irgendwelche Bedenken. Meine Haut prickelte, als hätte ich mir Juckpulver übergekippt und ein paar Glückshormone eingenommen. Normalerweise hasste ich Veränderungen, aber sie konnte mich nur kritisieren und einschränken.
Mit wem hast du geredet? DU verdienst mich gar nicht! Wieso habe ich nur so einen Idioten wie dich abbekommen? DU solltest ausziehen.
Als ich nach dem dunkelroten Koffer, den sie mir zu Weihnachten geschenkt hatte, griff, wusste ich, dass sie mich eigentlich gar nicht liebte. Hatte sie nie. Vielleicht war ich einfach nie genug. Meine Güte, wieso hatte ich mir das all die Jahre angetan? Meine Hand berührte die Türklinke und mit einem letzten Blick auf sie drückte ich sie herunter. Stand dann im Flur. Mit dem Gesicht zur Haustür. Mit einem einzigen Atemzug war alles vergessen. Ihre froschgrünen Augen und die dunkelbraunen Locken. Ihr Hass, genauso wie ihre selten gezeigte Liebe. Die Luft war plötzlich nicht mehr so schwer, als ich das Haus hinter mir ließ und einfach durch den strömenden Regen tanzte. Sollte es einen Gott geben, weinte er wahrscheinlich um seine Lieblings Daily-Soap. Mein Körper stand unter Strom, aber ich war frei. Und als ich am Auto ankam und den Koffer in den Kofferraum hievte, wusste ich es. Ich wusste es auch, als ich einstieg und losfuhr. Die Sonne war kurz davor aufzugehen und der Himmel so wunderschön lila-blau. Ich wusste nicht wohin, mit wem oder was ich mit meinem neu erworbenen Leben anfangen sollte. Mein Blick studierte die Straßen, als ich aus der Stadt fuhr, und die Schilder. So viele Möglichkeiten, so viel Zeit. Unendliche Möglichkeiten. Es war nicht mal besonders weit bis zum Flughafen. Dort könnte ich meine Flügel ausbreiten und einfach davonfliegen. In den Süden, Norden, Osten oder Westen. Es war ganz egal, aber endlich hatte ich es entdeckt. Den Grund meiner Flucht und der einzige Gedanke der wirklich zählte.
Sie war nicht gut genug für mich.
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