Fotos
Ein verwackeltes Bild von einem Kürbiskerneis, das im Dauertrend lag. Ich hatte im Gehen gedankenverloren daran geschleckt. Dann ein Krach. Eine Frau. Zum Glück war sie vom Eis verschont geblieben. Ich murmelte ein schnelles „Tschuldigung“ und eilte weiter. „Dich sollte man abschieben!“, schrie sie mir hinterher. Ich lachte sie in Gedanken aus. Mich konnten sie doch nicht abschieben, ich war hier geboren, ich studierte etwas Nützliches. Dass die dummen Anmerkungen häufiger wurden, machte mir nichts aus. Sie waren unter meinem Niveau. Ich schaue auf den Timestamp. 12: 55. Und erst zwei Jahre her?
Ein Selfie mit Ahmed, einem Studienfreund, in meiner Wohnung. Das türkische Restaurant, in dem er die letzten drei Jahre gekellnert hatte, hatte schließen müssen. Arbeitslosengeld gab es für ihn nicht, das war ein Staatsbürgerrecht. „Kein Problem, manchmal muss man sich halt gegenseitig helfen“, hatte ich gesagt, als ich ihm mein Sofa anbot. Er würde schon wieder einen Job finden. Tüchtig war er jedenfalls.
Ein Foto von meiner linken Schulter, behelfsmäßig verbunden. Von mir selbst, ich war stolz darauf, kein Geld für einen Optionalen Arztbesuch verschwenden zu müssen. Es war auf dem Heimweg von der Abschlussfeier passiert, die ich gerade so überstanden hatte. Die Straße war gut beleuchtet. Ein leichter Alkoholgeruch. „DE KETTN HOST SICHA GSCHDOIN, GIBS ZUA!“ Ein Stoß, ich spürte die Wand hinter mir. Ein Streifenwagen. Nein, er fuhr wieder weiter. Ein Knall, ein stechender Schmerz, dann waren sie weg. Sch*** Tag, dachte ich. Erst zuhause merkte ich, dass sie die Kette mitgenommen hatten.
Ein Screenshot vom Beginn eines Zeitungsartikels, der mir von einem Bekannten geschickt worden war. „Du hast Mia gesucht, oder?“ Mia war eine alte Freundin, wir hatten uns ein Treffen ausgemacht. Sie war nie aufgetaucht. Ich hatte sie angerufen, ihren Vater, ihre Schwester, hatte bei ihr angeklopft, hatte gemeinsame Freunde angeschrieben. Nichts. Keine Spur. Ich klickte auf das Bild. „Bereits 10000 Nichtassimilierte erfolgreich remigriert“, lautete der fettgedruckte Titel. Das hatte ich schon tausendmal gelesen. Was hatte das mit Mia zu tun? Dann sah ich es. Das Bild. Eine lange Schlange vor einem Flugzeug, auf beiden Seiten von Polizisten bewacht. Mia und ihre Familie waren unter ihnen. Mia! ? Nein. Doch. Aber. . . Ja, jetzt sah ich es. Ich hatte verschlafen. Wie hieß es in dem einen Buch? „In einer nach und nach immer heißer werdenden Badewanne wäre man totgekocht, ehe man es merkt.“ Das war vor einer Woche.
Ich stecke das Handy weg. Was, wenn ein neues Zeitungsfoto dazukommt? Eines von mir, von zwei Polizisten abgeführt, mit aufgerissenen Augen, der Mund zu einem Schrei verzerrt? Gesichter wie meines machen sie nicht mehr unkenntlich. Oder was, wenn kein neues Foto dazukommt, nie mehr? Vielleicht bin ich sowieso zu spät. Es ist 12: 59. Nein, so darf ich nicht denken. Dann hätten sie schon gewonnen. Ich schließe die Tür hinter mir ab, das bemalte Pappschild fest in der Hand.
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