Für immer
Ich schau dich an. Schau tief in deine glasigen, blau-grauen Augen. Die Falten in deinem Gesicht scheinen tiefer als zuvor, deine Haut trägt die Erinnerungen der Vergangenheit. Auf deiner Stirn hat sich der Krieg, der Hunger, die Armut abgezeichnet. Ich schaue wieder in deine Augen, um sie herum sehe ich die Hoffnung, die du immer hattest, die Tränen, die du geweint hast, die Erinnerungen an deinen Vater. Deine Lachfalten gelten dem Sommer, den du in Ungarn verbracht hast und von dem du uns immer so gerne erzählt hast. Sie gelten dem Stolz und der Freude über deine Familie, deine Kinder, Enkel und Urenkel.
Deine Haut erzählt jetzt die Geschichten, die du nicht mehr erzählen kannst, sie spricht zu mir. Dein Mund ist stumm geworden, deine Augen müde. „Geht es euch gut?“ „Ich hab dich lieb.“, das sind Sätze, die trotzdem immer noch deine Lippen verlassen. Du denkst, du seist eine Last für uns, du willst streben.
Ich halte deine kalte Hand. Jetzt wärme ich sie, so wie du es immer mit meiner gemacht hast. Ich erzähle dir von meinem Tag, versichere dir, dass es mir gut geht. Deine Haare, die mal rot gefärbt und in eine Dauerwelle gedreht waren, sind jetzt weiß und zusammengefallen. Deine Nägel, auf die du früher so viel Wert gelegt hast, die immer rosa angestrichen und gefeilt waren, sind jetzt kurz und unlackiert.
Irgendwie spüre ich das heute etwas anders ist. Als ich mich verabschiede drücke ich dich länger als sonst. Ich versichere dir, dass ich dich liebhabe und dass du immer einen Platz in meinem Herzen haben wirst. Für immer. Ohne Ende.
Ich gehe langsam aus deinem Zimmer. Schritt für Schritt. Ich drehe mich nochmal zu dir um, schicke dir einen Kuss und winke dir zu. Die Türe fällt hinter mir in die Angel und Tränen laufen meine Wange hinunter. Ich hatte recht, das war nämlich das letzte Mal, das ich dich gesehen habe. Die allerletzte Verabschiedung.
Ich hab dich lieb Urli. Für immer.
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