Für immer Elias
Elias war anders. Eine einzigartig spontane Genmutation ließ ihn im Erwachsenenalter nicht mehr altern. Er sah aus wie ein 30-Jähriger, obwohl er fast hundertsechzig Jahre alt war. In diesen Jahren hatte Elias viele Identitäten angenommen und viele Geheimnisse verborgen, um nicht aufzufallen. Er hatte erlebt, wie politische Mächte aufstiegen und fielen. Er hatte Revolutionen, Kriege, Krisen und Katastrophen überstanden, die die Menschen nur aus Geschichtsbüchern kannten. Er hatte beobachtet, wie sich die Technologie über zahlreiche Generationen entwickelt und die Welt um ihn herum unaufhaltsam verändert hatte.
Der junge Mann erkundete Länder, Berge und Ozeane und lernte neue Sprachen. Er studierte die Naturwissenschaften, weil ihn die Zusammensetzung der Welt faszinierte. Sein Wissen wuchs exponentiell, während viele seiner Freunde und Feinde, mit denen er geliebt, gestritten, gelitten, gelacht und geweint hatte, längst verstorben waren.
Elias war unglücklich, er fühlte sich einsam und isoliert, gefangen in einer Welt, die ihm immer wieder fremd wurde, während er stillstand. Er war zu einem lebenden Fossil geworden, das sich langweilte. Ihn durchdrang das müde Gefühl, dass er schon alles gesehen und getan hatte. Er sehnte sich nach etwas Aufregendem und nach jemandem, dem er sich anvertrauen konnte.
Zu dieser Zeit traf er Maija. Er sah sie zufällig in einem kleinen Café in der Altstadt, wo sie an einem Tisch saß und in einem Studienbuch über Chemie las. Er verliebte sich sofort in ihr schönes, neugieriges Gesicht und traute sich, sie anzusprechen. Sie hatte ein Lächeln, das sein Herz erwärmte und eine sanfte Stimme, die seine Seele berührte. Ihre witzige und ruhige, kluge Art fesselte ihn.
In ihren wiederkehrenden Unterhaltungen stellten sie fest, dass sie viel gemeinsam hatten. Sie teilten nicht nur ihre Hingabe zur Wissenschaft, sondern auch den Wunsch, die Welt neu zu entdecken. Sie hatten beide ein Gefühl von rastloser Einsamkeit, das andere nicht verstehen konnten, und er begann sie zu lieben.
Er beschloss, ihr sein Geheimnis zu verraten und hoffte, dass sie ihn nicht für verrückt oder einen Lügner hielt. Aber Maija glaubte Elias nicht. Zuerst vermutete sie, dass er scherzte und seine Ge-schichte erfunden hätte. Dann dachte sie, dass er krank wäre und sich Hilfe suchen sollte. Die junge Frau stieß ihn grob von sich und verließ ihn. Sie sagte ihm, dass er sich nicht mehr bei ihr melden sollte und dass sie ihn nie mehr wiedersehen wollte.
Elias war traurig und wütend. Er bedauerte es, ihr die Wahrheit gesagt, sich ihr geöffnet zu haben. Er bereute es, sich verliebt zu haben.
Er unterdrückte seine Emotionen, wurde gleichgültig gegenüber Liebe, Freude oder Trauer. Er verlor das Interesse an seinem Tun und an anderen Menschen. Er verfluchte es, anders, unsterblich zu sein. Er hasste es, zu leben.
Elias wollte sterben. Er suchte nach einem Weg, seinem Dasein ein Ende zu setzen, aber es gelang ihm nicht. Elias lebte nicht weiter. Er existierte weiter.
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