Freier Fall
Scheinbar gelangweilt schlendert das Mädchen in der roten Jacke durch das kleine Dorf am Meer. Nur ein paar der wenigen Passanten blicken kurz auf, doch niemand interessiert sich besonders für sie. Denn keiner von ihnen ahnt was sie vorhat. Auch Mark, der wie jeden Morgen an der Küste entlang spaziert, schenkt ihr zuerst keine große Beachtung. Doch dann sieht er, wie nah sie am Rand der Klippe steht. Zu nah. Viel zu nah. Er schreit, doch sie sieht ihn nicht an. Nur einen Moment später ist sie verschwunden. Fassungslos blickt er dorthin, wo vor ein paar Sekunden noch ihre rote Jacke im Wind flatterte.
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Ich warf noch einen letzten Blick auf das hinter mir liegende Dorf, bevor ich langsam den schmalen, steinigen Weg entlangging und mich somit meinem Ziel immer mehr näherte. Schon bald hörte ich das Rauschen der Wellen und wusste, ich war fast angekommen. Nur noch ein paar Schritte. Nur noch ein paar Meter, die mich von der Erlösung trennen. Zaghaft mache ich den ersten Schritt, nähere mich dem Abgrund noch ein Stück. Das Adrenalin lässt meinen Atem stocken, ich zittere am ganzen Körper und wickle mich unwillkürlich noch fester in meine rote Lieblingsjacke ein. Meine Zehenspitzen befinden sich jetzt nur noch ein paar Zentimeter vom Rand entfernt. Bin ich bereit? Bereit und stark genug dieses Elend zu beenden? Meine Gedanken schweifen ab. Alle denken immer, ich wäre glücklich, und natürlich gab es solche Zeiten, doch die sind schon lange vorbei. So gern wäre ich wieder frei und unbeschwert, nicht ständig gefangen in meinen Gedanken. Doch immer wieder muss ich mir eingestehen, dass es für mich keine Hoffnung mehr gibt. Und jetzt stehe ich hier, weil ich keinen anderen Ausweg mehr sehe. Denn aufgeben ist zwar feige, aber so leicht. Und insgeheim frage ich mich, warum ich nicht schon viel früher aufgehört habe zu kämpfen.
Zum Glück kennt niemand diese und all meine anderen Gedanken, denn sonst würde er sicher sagen ich sei krank. Wahnsinnig. Lebensmüde. Oder einfach völlig bescheuert. Es stimmt, flüstert die Stimme in meinem Kopf und ich weiß, dass sie Recht hat. Ich bin nichts weiter als ein krankes, wahnsinniges Mädchen in einer sonst so perfekten Welt.
Ein Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. Bestimmt nur ein Spaziergänger, der mich noch von meinem Vorhaben abbringen will. Doch das kann er nicht. Niemand kann das, denke ich, bevor ich noch ein letztes Mal Luft hole. Eine gefühlte Ewigkeit falle ich, dann taucht mein Körper in das kalte Wasser ein und alles um mich herum wird schwarz.
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Schmerzen am ganzen Körper. Ein dumpfes Pochen in meinem Kopf. Ich blinzle und erkenne ein Krankenhauszimmer. Schmerzlich wird mir bewusst, dass es nicht genug war. Nicht hoch genug. Nicht gefährlich genug. Nicht wahnsinnig genug. Ich bin nicht genug. Und doch lebe ich. Wieso nur macht man es mir so schwer, denke ich noch, bevor meine Augen erneut zufallen.
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