Freiheit
Der Pfahl. Der Pfahl, der die Autobrücke trägt. Dahinter haben sie ihr Nest gebaut. Trotz der Taubengitter, trotz des Lärms. Ihr Zwitschern kommt nicht ansatzweise gegen das Rattern und Dröhnen der Motoren an, ihre Anwesenheit ist nur durch den Kot, der die Straße darunter bedeckt, spürbar. Es sind viele, und sie leben schon lange Zeit hier, schon mindestens, seit ich bei der Druckerei in der Schubertgasse arbeite. Seither gehe ich nämlich zweimal täglich diesen Weg, einmal um halb sechs Uhr morgens, einmal um fünf Uhr nachmittags. Ich könnte auch mit dem Fahrrad oder sogar mit dem Auto fahren, dann wäre ich schneller, dann würde ich erst um dreiviertel sechs und schon um Viertel vor fünf hier vorbeikommen. Aber das will ich nicht, ich gehe lieber zu Fuß. Ich möchte jeden Tag zweimal die Vögel hier sehen, zumindest von Anfang Frühling bis Ende Herbst. Im Winter geht das ohnehin nicht, da erinnern nur die zweifelhaften Rückstände unter meinen Füßen an ihre Existenz, und dann muss ich mir vorstellen, sie wären da.
Jedes Jahr. Sie kommen jedes Jahr wieder. Ich weiß nicht, ob es jedes Jahr die gleichen Vögel sind, aber Vögel sind jedes Jahr da, da kann man tun, was man will. Die Stadtgemeinde hat sich schon alle möglichen Kunststücke einfallen lassen, um sie zu vertreiben. Die Vögel beschmutzten die Gehwege, die Vögel verscheuchten die Touristen, sagen sie. Mich können sie nicht verscheuchen, im Gegenteil. Wenn ich auch für mich kein Glück kenne, so ist die Beständigkeit, die stoische Kontinuität, mit der sie Frühling für Frühling hier nisten, möglicherweise das, was ihm am nächsten kommt. Ich staune über sie, jeden Tag, staune über ihre Freiheit, ihre Ungebundenheit. Manchmal wäre ich gerne einer von ihnen. Manchmal würde ich gerne einfach davonfliegen.
Flügel. Sie haben Flügel, die sie überallhin tragen, wohin sie wollen. Wohin ihnen kein Mensch je folgen kann. Zweimal am Tag bleibe ich ehrfürchtig stehen und schaue hinauf. Es sind Dutzende, und sie schwirren unter der Brücke herum, landen auf Balken der Konstruktion und fliegen wieder fröhlich zwitschernd weiter. Sie fliegen fort, kommen mit Nahrung für die Jungvögel oder Stroh für die Nester zurück und kümmern sich nicht um uns, weder um die Leute von der Stadtgemeinde noch um mich. Einmal habe ich einen jungen Vogel beobachtet, der bei seinem ersten Flugversuch aus dem Nest gefallen ist. Hart ist er auf dem Asphalt aufgeschlagen, der Aufprall war bis zu mir zu hören. Da habe ich Angst bekommen. Ich habe mich gefragt, ob die Vögel, ob alle Vögel, die dort oben herumfliegen, zuerst gefallen und aufgeschlagen sind. Ob jeder von ihnen gefallen ist, um fliegen zu lernen. Fliegen möchte ich können, aber vor dem Fallen habe ich Angst. Ich könnte am Boden zerschellen wie der Jungvogel, und so wichtig ist mir das Fliegen dann doch wieder nicht.
Ich habe mich damals schnell abgewandt. Beim Gehen bin ich ein bisschen fester aufgetreten als sonst. Vielleicht habe ich aber auch nur laute Schuhe getragen.
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