Freitag
Es ist Freitag. Die Schreie vibrieren in der kühlen Luft. Sie werden zu Sirenen in meinen Ohren, so unerbittlich, so verzweifelt. Ein Heer aus tausenden Kämpfern marschiert vorbei. Die Trommeln im Rhythmus ihres Herzschlages. Der Asphalt bebt unter den Füßen von Alten, von Jungen, von Gebrechlichen, von Kranken. Sie stemmen ihre Fäuste und Schilder zum Kampf gegen uns empor. Ihre Fahnen wehen in dem Wind, von dem sie sich Veränderung wünschen. Sie werden immer lauter, sie schießen mit ihren Worten auf uns als wären es Granaten, die uns jeden Moment in tausend Stücke zerreißen. Tausende Kämpfer.
Ich muss den Reflex zurückhalten, mich abzuwenden, das Fenster zuzuschlagen und wegzulaufen. Es würde keinen Unterschied machen, ich laufe die ganze Zeit weg von meiner Verantwortung, von meiner Pflicht. Ich kann es nicht mehr hören. Ich kann es nicht mehr sehen. Dank ihnen kann ich mich nicht mehr selbst im Spiegel sehen.
Sie werden solange um meine Festung marschieren, bis ich handle. Aber kann ich überhaupt handeln? Können wir noch handeln? Natürlich kann ich das, können wir das, aber ich bin nicht so stark wie sie, ich bin nicht bereit den Preis dafür zu bezahlen.
Also mache ich das Fenster zu und werde taub, ich wende meinen Blick ab und werde blind. Ich will meine Gedanken, mein Gewissen zum Schweigen bringen, aber ich kann es nicht. Ihre Schreie werden immer lauter und lauter in meinem Kopf, viel lauter als sie es draußen waren. Ich presse meine Hände auf die Ohren, vergeblich. “Wir sind hier und wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut. ” Dieselben Worte immer und immer wieder. “there is no future on a dead planet. ” Ich schließe meine Augen, aber ich sehe nur tausende Gesichter, tausende Augen, in denen ein und derselbe Wunsch liegt.
Dann gehe ich hinaus. Nicht in das Schlachtfeld, sondern in den großen Saal. Verdrängung gehört zu meinem Beruf, ich muss mich auf das Wichtige fokussieren. Es ist Freitag, und um 12: 15 beginnt die Sitzung des Nationalrats.
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