Gelöschtvon sophie schuster
„G. Dan-Ken“ steht auf dem kleinen Schild am Holztisch. Geschlagene zehn Minuten warte ich, bis schließlich eine der Mitarbeiterinnen dieser Abteilung hinter dem Tisch auftaucht und mir bedeutet, mich zu setzen. Sie schiebt mir gelangweilt ein Formular hinüber, das ich brav ausfülle, während sie etwas in den Computer eintippt. Sobald ich den letzten Buchstaben geschrieben habe, reißt sie mir das Papier aus den Händen.
„Den können Sie behalten“, beschließt sie mit einem kritischen Blick auf den Kugelschreiber, den ich zurückgeben will. Ich sollte wohl aufhören, an jedem beliebigen Stift herumzukauen, bis dieser fast zersplittert…
Ihre dünnen Finger schieben die Brille auf ihrer Nase zurecht.
„Nun, Ihr Name ist also Text I. Dee, korrekt?“
Ich nicke stumm und versuche, meinen Kopf so zu neigen, dass einerseits das Sonnenlicht von draußen meine Augen nicht erblinden lässt und ich andererseits nicht allzu seltsam aussehe.
„Gut“, kommentiert G. Dan-Ken, „Und was führt Sie zu mir?“
„Ich…“ Meine Stimme zittert. Es ist mir zu peinlich. G. Dan-Ken zieht eine blau geschminkte Augenbraue hoch und schlägt ihre unnatürlich langen Wimpern auf und zu. Eins, zwei, drei, vier, fünfmal.
„Ich habe kein Ende“, murmle ich schließlich und falte meine Hände beschämt zusammen.
„Wie bitte? !“, fragt G. Dan-Ken viel zu laut. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich tatsächlich nicht gehört hat, oder ob sie nur für den dramatischen Effekt noch einmal nachfragt. Also wiederhole ich den Satz einfach.
„Ich habe kein Ende.“
Die Worte hallen in meinem Kopf immer wieder. Ich weiß, dass G. Dan-Ken weiß, dass ich weiß, dass wir beide wissen, was das bedeutet. Trotzdem erklärt sie es für mich, sodass wir beide über das Bescheidwissen des jeweils anderen Bescheid wissen.
„Ihnen ist bewusst, dass unsere Autorin keinen besonders strapazierfähigen Geduldsfaden hat. Ihnen bleiben meiner Meinung nach höchstens zwei Stunden, um ein akzeptables Ende zu finden.
„Ja“, bestätige ich ein wenig abwesend.
„Und Sie wissen, was passiert, falls sie kein Ende finden sollten? Unsere Autorin wird ihr Word-Dokument verwerfen und Sie damit aus ihrem Gedächtnis löschen. Und ohne Textidee kann sie nicht am Wettbewerb teilnehmen…“
Ich stelle mir grausame Szenen vor, in denen ich einfach achtlos gelöscht werde. Dabei bin ich so eine gute Idee! Mein Anfang, meine lustigen Satzkonstellationen und all die Charaktere… Ich habe das alles in einer Tasche bei mir getragen, war am Weg zum Herzen der Autorin – und nun sitze ich hier und weiß nicht, wo das Ende ist. Und wie soll sie einen Text ohne Ende schreiben?
Mit einem kurzen Nicken verabschiede ich mich von G. Dan-Ken, die mich mitleidig ansieht, und spaziere dann zum Markt. Dort stehen überall Schilder.
„Charakterentwicklung, jetzt zum halben Preis“
„Ausgefallenes Vokabular, -20%“
„Kaufen Sie 2 Kapitel, bekommen Sie 1 Epilog gratis dazu! ! !“
Nur was ich suche, kann ich nirgendwo finden.
„Verzeihung, haben Sie ein Ende gesehen?“, frage ich planlos durch die Menge.
Nein.
Nein.
Niemand.
Niemand kann mir ein Ende geben. Ich durchsuche abermals meine Tasche. Charaktere, Dialoge, spannende Wendungen, alles für eine wirklich gute Geschichte, eine gute Idee. Weil ich nämlich genau das bin – und da verursacht die Abwesenheit eines Endes ein noch größeres Problem. Als ich gerade wieder zusammenpacken will, greifen mehrere Hände nach mir und ziehen mich mit sich. Ich sehe die Charaktere und Dialoge aus meiner Tasche rollen und frage mich, ob ich sie je wieder in den Händen halten werde.
Und dann realisiere ich, dass ich vielleicht bald gar keine Hände, geschweige denn einen Körper haben werde.
Die Security-Leute ziehen mich in einen Lastwagen, schließen die schweren Türen und lassen mich alleine in der Dunkelheit zurück. Ich spüre, wie das Fahrzeug gestartet wird. Der Körper eines Menschen reagiert schon ziemlich empfindlich auf vollkommene Dunkelheit. Er wird dann meistens absolut orientierungslos. Aber bei Ideen ist das nicht so. Ich habe nur Angst.
Angst im Dunkeln, weil ich da die Schatten nicht sehen kann, die mich vor Gefahr warnen könnten.
Und Angst vor dem, was mir bevorsteht.
Eiskalte Fliesen unter meinen nackten Füßen. Es ist dunkel in dem Raum, in den sie mich bringen. Ich weiß, dass ich hier bin, weil ich gleich gelöscht werde. Nur verstehe ich nicht, warum sie mich jetzt schon holen. Es sind noch lange keine 2 Stunden vorbei…
Das Licht wird aufgedreht, meine Augen gewöhnen sich langsam an die Helligkeit.
Jetzt verstehe ich erst, wo ich mich befinde. Ich bin direkt hinter den Augen der Autorin, sehe alles aus ihrer Sicht. Ein leeres Dokument. Hätte sie mir ein bisschen mehr Zeit gegeben, ein Ende zu finden, könnte dort ich stehen. Mein Text. Aber ich bin nur eine rohe Idee ohne Ende.
Jemand räuspert sich und meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Person.
G. Dan-Ken steht vor mir.
In ihrer Hand liegt etwas, das mir bekannt vorkommt.
Mein Ende.
Sie grinst und wirft es auf den Fußboden, wo es zerbricht, wie Glas.
Ich spüre sofort Schmerzen durch meinen Körper zucken.
Wir Ideen sind nämlich mit den Bestandteilen unserer Texte verbunden. Ich starre G. Dan-Ken an. Woher hat sie mein Ende?
„Keine Sorge, Sie waren sowieso eine schlechte Idee“, kommentiert sie und greift in den braunen Stoffsack, den ihr einer der Security-Leute entgegenhält. Daraus holt sie meine Dialoge. Genau die, die ich so schön zusammengesucht habe.
„Woher haben Sie mein Ende? Und die Dialoge, die Charaktere, die - einfach alles!“
Sie grinst und zerbricht die Dialoge in ihren Händen. Ich sinke auf meine Knie und beiße die Zähne zusammen.
Sie hatte mein Ende von Anfang an. Aber ich verstehe nicht, warum sie das tut. Warum sie meinen Text zerstören will.
Vielleicht soll es einfach so sein, weil alle wirklich guten Ideen irgendwann vergessen werden.
Ich blicke nach draußen, durch die Augen der Autorin.
Das Dokument wird gelöscht.
Ich werde gelöscht.
Und das nur, weil ich kein Ende habe.
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