Generation Schneeflockevon Lisa-Marie Wallner
Lea steht vor dem Spiegel und zerbricht sich den Kopf darüber, ob ihr mittellanges Top zu kurz oder ihr kurzes Top zu lang ist. Wieder mal Tag 1, 6: 15 Uhr. Unchristliche Zeiten, obwohl Lea Atheistin ist. Lea wohnt im Mühlfeldgraben, Nähe der A2, von wo aus man einige Stunden fahren muss, bevor man kurz vor der italienischen Grenze am Meer ankommt. Am Meer, wo das Leben nach Freiheit schmeckt und es nicht die ganze Zeit so arschkalt ist.
Apropos arschkalt: Lina trägt schon wieder keinen BH. Die Jacke hat ihren Weg auch heute nicht aus der kleinen Wohnung rausgefunden, dafür hat Lina stattdessen weiße Overknee Strümpfe und schwarze Ballerinas an. Lea wäre gerne so selbstbewusst wie Lina. Lea weiß nicht, dass Lina heute auf dem Weg zu Schule schon dreimal angehupt worden ist. 7: 48 Uhr. Der Unterricht hat bereits begonnen. Lina und Lea sind drei Minuten zu spät, aber immerhin noch fünf Minuten vor Mathias da. Der versäumt die ersten zwei Schulstunden, weil er die Nacht zuvor wieder nicht geschlafen hat.
Lea hat mit Mathias geschlafen. Das weiß Isabella, obwohl sie mit keinem von beiden je ein Wort gewechselt hat. Mathias Augen sind sandsteinfarben. Er wirft Lea Blicke zu, die Isabella nur allzu vertraut erscheinen. Leas Augen sind olivgrüngrün. Sie hat einen Nasenpircing und trägt viel zu kurze regenbogenfarbene Tops. Außerdem hat sie Hippie-Eltern. Das weiß Isabella nicht, aber sie vermutet es, weil sie Lea regelmäßig nach der Schule auf den Beifahrersitz eines cremefarbenen Vans einsteigen sieht.
Der Van gehört Ajalas Bruder. Ajalas Eltern sind aus Sri Lanka. Lea weiß nicht genau, wo Sri Lanka liegt, aber sie vermutet, dass man entlang der A2 bestimmt irgendwann dort ankommt, wenn man nur lang genug am Weg bleibt. Ob es dort auch so arschkalt ist? Zumindest haben die dort ein Meer, hat sie gehört. Lea liebt die ausgelassene Stimmung bei Ajala zuhause. Es ist ganz anders als bei ihr. Als Einzelkind hatte sie nie Geschwister. Ajala hat fünf. "Da fällt Lea auch nicht mehr auf", meint Ajalas Vater zwinkernd. Lea würde Ajala gerne mal zu sich nach Hause einladen, aber dafür klingt Ajalas Name zu fremdartig und ihre Haut ist einen Touch zu haselnussfarben. Lea ist Atheistin, aber ihre Eltern sind es nicht. Und Ajalas Eltern auch nicht. Lea hat zwar seit der vierten Klasse keinen Religionsunterricht mehr, aber obwohl sie es nicht ganz versteht, weiß sie, dass das ein Problem ist.
Problem, substantiv, das. Davon hat Mathias einige. An den drei von vier Tagen, die er in der Schule verbringt, versucht er aufzupassen, er versucht es wirklich. Aber seine Gedanken schweifen immer ab von Französischvokabeln zu Lea und dann nach Nordkorea. Er fühlt sich eingesperrt. Wo ist die Bedeutung im Leben, wenn ein Leben allein letztendlich bedeutungslos ist? Mathias Freundin heißt Ajala, sie sind schon fast sechs Monate zusammen. Ajalas Augen sind nicht so grün wie die von Lea. Sie sind dunkel, stürmisch, finster, fast schwarz.
Nachts, während die anderen schlafen, ist Mathias hellwach und sieht sich Katzenvideos im Internet an. Die haben auch keine Bedeutung. Aber dadurch, dass er sie sich so bedeutungslos jede Nacht mindestens zwei Stunden lang ansieht, bedeuten sie für ihn fast so viel wie Zigaretten. Eine Packung liegt immer bereit unter seinem Kopfkissen. Früher haben sie ihm beim Einschlafen geholfen. Jetzt schafft er es nicht mehr aufzuhören. Wenn Mathias sich keine Katzenvideos oder andere Filmchen ansieht, liegt er schlaflos im Bett und hat Angst. Angst vor dem Tod, Angst vor der Zukunft, Angst vor der Bedeutung. Dann schaltet er das Licht an und denkt daran, wie schön Patricks Mund aussieht, wenn er das Wort Espérance ausspricht. Patrick geht in die 8A. Mathias hat noch nie mit ihm geredet und vergessen, heute Abend Ajala anzurufen. In seinem Kopf ist Chaos, weil er so viel Angst hat und weil er vorgestern Nachmittag noch bei Lea zuhause war. Und weil er in die 8B geht.
Patrick wollte immer anders sein. Er lackiert sich die Nägel gelb und diskutiert oft mit Isabella über Politik. Außerdem will er Psychologie studieren. Vor zwei Wochen war es noch Sorabistik. Sein Opa hat beide Male geschmunzelt und gemeint, er soll etwas Gescheites studieren, etwas, was sich irgendwann mal lohnt. Aber daraufhin schüttelt Patrick stur den Kopf und bleibt bei seinem Wunsch. Keine Ahnung, ob sich so ein Studium lohnt. Keine Ahnung, warum der Subjonctif im Präsens schon so kompliziert und Umweltschutz für so viele ein Fremdwort ist. "Opa weiß es eben nicht besser. Ich hab ihn trotzdem lieb", erklärt Patrick Isabella mit einem Glas Barcadi Cola in der Hand und spricht Opa damit ganze dreiundsiebzig Jahre Lebenserfahrung ab.
Generation liebesunfähig. Dienstag, 14: 16 Uhr, mittlerweile Ende November. Der Nachmittagsunterricht fällt heute aus. Ajala stürmt ohne Gruß an ihrer Mutter vorbei und ruft Mathias jetzt schon zum dritten Mal innerhalb einer Minute an. Zwei Mal abgelehnt, einmal angenommen. Ajala atmet leise ins Telefon. "Isabella hats mir erzählt", sagt sie mit wackelnder Stimme. Und "Du liebst mich nicht. " Kein Widerspruch. Lea ist eine falsche Schlange. Aber die einzige Schlange, die freundlich zu Ajala war. So langsam versteht Ajala, wieso sie sich die ganze Zeit so leer und ausgeschlossen fühlt.
Generation „Zusammen sind wir stark“. Seufzend streicht sich Lina eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie ist auf dem Weg zur Schule, schon wieder drei Minuten zu spät. Eine einzelne Schneeflocke verfängt sich in ihren Haaren, eine andere landet auf ihrer Nasenspitze. Sie schmilzt sofort. Vorher weiß, jetzt Wasser. Der Asphaltboden könnte auch ein wenig Farbe vertragen. Der ist nämlich langweilig, eintönig, und … grau. Aus gelegentlichen Ritzen wachsen ein paar mutige Grashalme. Lina fragt sich wie das so ist, mutig zu sein. Den hupenden Autos den Mittelfinger zu zeigen und sich gemeinsam für etwas einzusetzen, was einem wichtig ist. Für weniger Asphalt und mehr Grashalme, zum Beispiel. Manchmal würde Lina auch gern helfen, aber sie weiß nicht, wie. Zahlreiche Schwachstellen und nur ein einziges Leben. So viel zu tun, aber kein Lösungsansatz. Das Gefühl ist ernüchternd, aber irgendwie auch schön.
Generation „Im Kreis laufen“. Patrick freut sich auf den Urlaub in Ughanda. Gestern war er auf einer Fridays for Future-Demo und hat deswegen die letzte Stunde frei bekommen. Patrick traut sich, laut seine Meinung zu sagen, deshalb ist er im vorigen Jahr zum Schulsprecher gewählt worden. Nur dass er schwul ist, das hat er noch nicht zugegeben. Vielleicht vertut er sich ja auch. Außerdem hat Mathias eine Freundin. Aber seine haselnussbraunen Augen funkeln so schön, wenn er im Unterricht abwesend aus dem Fenster schaut und kein Wort Französisch spricht. Patrick ist verwirrt. Durcheinander, entgeistert, fassungslos, konfus. Schwer zu verstehen. Ihr dreht doch alle langsam durch.
Lea, Lina, Isabella, Ajala, Patrick, Mathias. Allwissend und zugleich so unbeschwert naiv. Bedeutungslos in einer Welt, die nur für sich selbst Bedeutung hat. Großteils noch Kinder, bis auf den kleinen Teil, der langsam versteht, was er- wachsen eigentlich bedeutet. Stark, aber letztendlich so fragil wie die Schneeflocken in Linas Haaren. Die letzte ist geschmolzen, bevor Mathias sich eine pseudo-philosophische Metapher dafür ausdenken konnte.
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