Genies und Idioten
8: 15. Meine erste Stunde begann. Mathe. Andere Leute in meinem Alter würden aufstöhnen. Ich dagegen freute mich. Oft nannten mich meine Klassenkameraden „Streber“. Aber ich sah das nicht als Beleidigung an. Insgeheim freute ich mich. Es gab mir das Gefühl anders zu sein. Und das mochte ich. Intelligenz war das Wichtigste für mich. Deshalb traf ich mich auch nie mit Mitschülern. Sie waren nicht klug genug. Vor mir saß ein Idiot. Hinter mir ein Idiot. Und rechts und links auch. Überall Leute, die nicht mit mir mithalten konnten. Sie waren nicht genug.
Mein Lieblings-Lehrer betrat die Klasse. Er war zwar schon etwas in die Jahre gekommen. Mit ihm verstand ich mich besser als mit den Idioten. Er hatte etwas im Kopf. Eine Seltenheit. Wir begannen sofort mit dem Lernstoff. Er stellte eine Frage.
„Ein Haploider Chromosomensatz“.
Ich war die einzige, die sich gemeldet hatte.
„Korrekt.“
Der Professor nickte mir zu. Mir fiel auf, wie hastig er gestikulierte. Normalerweise war er langsamer. Er wirkte verändert. Der Lehrer schrieb meine Antwort an die Tafel. Mitten in der Bewegung stoppte er.
„Ähm…Herr Professor, Sie haben das „tz“ vergessen“, machte ich ihn aufmerksam.
„Oh ja, ja, Danke schön. Also weiter im Text…“
Er haspelte, während er redete. So etwas tat er nie. Ich bemerkte, wie er plötzlich seine Augen verdrehte. Es war kein „Du-nervst-mich-enorm-bitte-hör-auf-damit- Augen-verdrehen“. Eher von der Sorte „Verdammte-Scheiße-was-passiert-hier? !“ Und dann klappte er einfach zusammen.
„Verdammt! Atmet er?“, brüllte der Idiot hinter mir.
Überprüf es, verdammt noch mal, bellte die Stimme in meinem Kopf zurück. Der Idiot, der neben dem Idiot rechts von mir saß, sprang auf und kontrollierte die Atmung.
„Er atmet nicht“, schrie er. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich wusste, was zu tun war: Eine Herzdruckmassage. Mit einer Beatmung. Dreißig-Mal drücken, dann zwei Mal beatmen. So oft wie notwendig. Ich war die einzige, die es hinbekommen würde. Aber ich tat es nicht. Ich war wie gelähmt.
„Mach das Herzdruck-Scheißding“, schlug der Idiot vor mir vor.
„Hey, Streber sag doch mal was. Was sollen wir tun? !“, fragte er mich unvermittelt.
„Äh…ähm…ich…ich…“
Wieso druckste ich so herum?
„Also…ich glaube…“
Verdammt, was war los mit mir? !
„Die Klugscheißerin hat keine Ahnung. Mach das Herzding! Ich ruf die Rettung. Streber, Du rennst zum Lehrerzimmer. Mach schon!“
Ich wusste was zu tun war. Ich wollte es tun. Ich konnte aber nicht. Der Idiot war mitten in der Herzdruckmassage. Er machte es viel zu schnell.
„Ähm…du…du musst es anders machen!“
„Aber wie? Verdammte Scheiße. SAG VERDAMMT NOCHMAL WIE!“
Er schaute mich verzweifelt an und formte mit den Lippen ein leises „Bitte“.
„Ach, du…du. . musst…“
„Guten Tag! Wo ist der Patient?“ ertönte die Stimme der Sanitäterin. Sie war gefasst, ganz anders als ich, und übernahm die Herzdruckmassage. Wir sollten die Klasse verlassen. Im Gehen raunte mir der Idiot zu.
„Intelligenz ist manchmal nicht genug.“
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